Eines ist bei den Wahlen zum Europäischen Parlament Ende Mai offensichtlich geworden: Das Interesse an EU-Politik ist nicht nur gewachsen, sondern hat sich auch in einer gestiegene Wahlbeteiligung widergespiegelt. Warum? Vor fünf Jahren prägte die eiserne Sparpolitik durch Regierungen und EU-Institutionen zu Lasten der Sozialsysteme die Abstimmung. Dies geschah bekanntlich vor dem Hintergrund der unbewältigten Finanz- und Wirtschaftskrise und hatte eher Hilflosigkeit und Wahlabstinenz der Bürger*innen zur Folge. Im Jahr 2019 dominierten Brexit und Klimanotfall die Wahlen – und es war vor allem die Jugend, die sich nicht einschüchtern ließ, sondern ihre Erwartungen an die Politik ausdrücklich auch im Gang an die Wahlurnen demonstrierte. Dies bietet für die kommenden Jahre im Europäischen Parlament nicht nur eine gute Ausgangslage, um den Zusammenhang von EU-Entscheidungen und dem Alltag der Menschen stärker wahrnehmbar in den Fokus zu rücken und die Bedeutung europäischer Entscheidungen für die Nationalstaaten und die Regionen klarer zu benennen, sondern muss Handlungsmaxime für alle Abgeordneten im neuen Europäischen Parlament ab Juli sein!
Damit stehen auch die LINKE-MdEP in der Pflicht: Den Wähler*innenauftrag nehmen wir ernst. Zum Beispiel beim Thema Klimawandel: Noch vor der Wahlpause hat die Fraktion der Linken – als einzige im Europaparlament – ein Notfall-Klima-Manifest veröffentlicht, in dem unverzüglich zu ergreifende Schritte benannt sind [Notfall-Klima-Manifest]. Straßburg und Brüssel sind Entscheidungsorte von Politik mit direkter Auswirkung auf sehr viele nationale und regionale Entwicklungen; deshalb ist es so wichtig, dass sich Menschen dafür interessieren, wer was und wie in der EU entscheidet. Und dass Bürger*innen mit ihrer Stimme Einfluss auf heutige und künftige Ausrichtung europäischer Politik nehmen. Wie soll Frieden und Stabilität auf unserem Kontinent gewährleistet werden, wie sind Rahmenbedingungen für die Überwindung von Mietwucher, Pflegenotstand, Jugendarbeitslosigkeit, Artensterben, wie nachhaltige und regionale Wirtschaftspolitik, Müllvermeidung, Infrastrukturausbau - alles in einer wie nie global vernetzten Welt – zu realisieren?
Aber machen wir uns nichts vor: Das Wahlergebnis zeigt, dass wir als DIE LINKE. die Zusammenhänge notwendiger konstruktiver Gestaltung der EU-Entwicklung und unser Angebot alternativer sozialer, demokratischer, ökologischer und solidarischer Vorschläge nicht so vermitteln konnten, wie gewollt und erhofft. Die Wahlen brachten einen Zuwachs für euroskeptische Parteien, EU-weit und auch in den neuen Bundesländern konnten rechte Parteien Zugewinne verzeichnen, in einigen Mitgliedstaaten wie Frankreich oder Italien sogar stärkste Kraft werden. Zugleich haben linke Kräfte in fast allen Ländern Verluste verzeichnet, konnten sie ihre Zuwächse aus 2014 – dem Höhepunkt des Versagens der EU, auf die sozialen Fragen der Menschen eine Antwort zu geben – nicht halten. Dies stellt auch an DIE LINKE. die Frage, wie sie ihre Perspektive eines sozialen, demokratischen, solidarischen Europas, das sich auch für Menschen und Umwelt in anderen Regionen der Erde engagiert, deutlicher fokussiert: Wo will, bzw. muss die Linke in Zukunft hinsteuern, wenn sie EU-Politik ernsthaft mitgestalten und linke Akzente setzen will bei Themen wie Demokratisierung und einem konsequenten, wie wir alle wissen alternativlosen, sozial-ökologischen Umbau. Ich meine, den globalen Herausforderungen kann man sich nur stellen, wenn man über nationale Grenzen hinweg denkt und sie gemeinsam angeht. Zur Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der 2030-Agenda – alle Mitgliedstaaten der EU haben diese in New York unterzeichnet – bleiben uns nur elf Jahre. Saubere Meere, Überwindung von Armut (alleine 50 Millionen Haushalte in der EU wissen am Monatsende nicht, wie sie noch den Lebensunterhalt finanzieren können!), entschiedene Absenkung der Erderwärmung, Gleichberechtigung von Frau und Mann in allen Lebenssituationen, Gesundheitsversorgung sind nur einige dieser politischen und wirtschaftlichen Entscheidungsnotwendigkeiten. Hier muss, will und wird die Linke eine Rolle spielen, trotz erschwerter Ausgangssituation als künftig kleinste Fraktion im EU-Parlament. Wir setzen uns ein für eine Stärkung des Europäischen Parlaments, einschließlich des notwendigen Initiativrechts für Gesetzgebung, für mehr Mitbestimmung der Bürger*innen, für verbindliche gemeinsame soziale Standards, für fairen und ethischen internationalen Handel mit hohen beschäftigungspolitischen und umweltpolitischen Standards und verbindlichen Regeln der Unternehmensverantwortung entlang der gesamten Wertschöpfungs- und Lieferketten. Politik darf nicht zugunsten großer Konzerne gestaltet werden, sondern muss den Menschen und die Umwelt im Blick haben. Hierfür steht die Linke auch weiterhin.
Als Antwort auf das unbestritten schlechte Wahlergebnis müssen wir schleunigst konkrete Strategien entwickeln und insbesondere Klarheit schaffen bezüglich unserer Haltung zur EU – kritisch, aber dennoch mit Blick auf eine vertiefte europäische Integration, ohne die Regionen zu vernachlässigen. Zugleich muss die Vernetzung mit linken Kräften über Ländergrenzen hinweg, gerade auch im Nachbarland Polen und anderen Mittel- und osteuropäischen EU-Staaten, stärker in den Fokus genommen werden. Und überall, auch in Deutschland, müssen wir unsere Politik klarer in Bezug auf die Akteursebene formulieren, denn Politik ist immer konkret: In Schwerin oder Potsdam, in Berlin und Warschau, in Brüssel wie in Straßburg!