Helmut, Du bist Mitglied des Europäischen Parlaments seit 2009, stellst Dich erneut zur Wiederwahl, wurdest gleich im ersten Wahlgang mit 58,2 % der Vertreter*innenstimmen gewählt und bist somit erneut aussichtsreicher Kandidat aus dem Land Brandenburg für das „so ferne Parlament“. Das Interview wird uns Deine bisherige Tätigkeit und Deine Ansprüche an europäische Politik sicher näher bringen und auch, was die Menschen „von Europa haben“.
EU contra Kommune? Die Europawahlen wurden mit den Kommunalwahlen terminlich verbunden. Ist das nicht ungeschickt, Wahlen für ein globales Gremium mit einem regionalen zusammenzulegen?
Nein, denn das neu gewählte Europäische Parlament (EP) wird mit seinen Gesetzen und Entscheidungen auch Brandenburg und seine Kommunen beeinflussen – das EP wirkt vor Ort! Daher begrüße ich den gemeinsamen Termin zur Wahl des EP mit der Kommunalwahl in Brandenburg. Beide Ebenen wirken zusammen und haben auch durchaus Parallelen: Ob nun im EP oder in einer Gemeindevertretung, jedes Thema sucht sich seine Mehrheiten neu. Nur sehr wenig ist wirklich schon im Vorfeld fest oder gar durch die Rollenverteilung „Regierung-Opposition“ vorbestimmt. Daher gehören Europa und die europäische Politik zum Handwerkszeug von kommunalpolitischer Aktivität und so ist auch die Verknüpfung beider Wahltermine miteinander sinnvoll. Themen, die für die Kommune auf der Agenda stehen, können so direkt in einen europäischen Kontext gesetzt werden. Ein gemeinsamer Fokus kann die verschiedenen Ebenen verknüpfen und die politische Debatte bereichern. Und die möglicherweise höhere Wahlbeteiligung sollte man bei kombinierten Wahlen ebenso nicht außer Acht lassen.
Zusätzlich ist es natürlich auch effizienter: Man spart Zeit, den zusätzlichen Einsatz von Wahlhelferinnen und Wahlhelfern und nicht zuletzt auch Geld, wenn man die Termine kombiniert.
Wenn die Tätigkeit der Kommunen so stark durch die EU beeinflusst wird, ist doch die Frage, welcher Handlungsspielraum da überhaupt noch besteht?
Da verhält es sich ähnlich wie mit der Beziehung des Bundestags (bzw. Landtags) zur Kommune. Das EP gibt den globalen Kontext vor, setzt die Richtlinie. Die konkrete Ausgestaltung, die Differenzierung im Kleinen, erfolgt aber vor Ort. Das EP will, kann und darf ja auch gar nicht in jedes Detail „Reinregieren“, das ist ein falsches Bild. Das EP gibt eine Art Richtschnur vor - einen Mindeststandard unter dem es dann in der EU bzw. den Mitgliedsstaaten nicht gehen darf. Was man dann vor Ort konkret damit macht und wie weit man geht (denn ein „Mehr“ geht immer) bleibt in regionaler bzw. kommunaler Hoheit. Das ist richtig und finde ich gut, denn auch für mich ist die Kommunalpolitik das Kronjuwel linker Politik.
Dass für gestaltende Kommunalpolitik auch finanzielle Mittel vorhanden sein müssen, versteht sich von selbst. Für die Finanzausstattung der Kommunen ist aber der nationale Gesetzgeber zuständig, nicht das EP. Insofern sind die Adressaten bei der Frage nach Handlungsspielräumen der Bund und das Land.
Die Handlungsfähigkeit der Kommunen ist sehr stark durch ihren meist schmalen Finanzrahmen bestimmt und dazu gibt es die Reglementierungen durch die EU. Schränkt das die Kommunen nicht zusätzlich ein?
Wie gerade schon gesagt: Die Grenzen setzt hier eher die Bundes- und Landespolitik, nicht das EP. DIE LINKE kritisiert den Bund zum Beispiel stark für seine Politik, die dafür sorgt, dass die Sozialausgaben immer weiter steigen - in diesem Jahr auf gute 60 Mrd. Euro, soweit ich weiß. Wenn gleichzeitig rund 80 Prozent dieser Kosten auch noch von den Landkreisen und kreisfreien Städten getragen werden müssen, läuft da schon was falsch, finde ich.
Wie ich das meine? Mit einem auskömmlichen bundesweiten Mindestlohn müssten viele Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer nicht noch zusätzlich zum Amt und aufstockende Leistungen beantragen. Hier muss man gegensteuern!
Das Land Brandenburg unter Rot-Rot hat hier im Rahmen seiner begrenzten finanziellen Möglichkeiten schon einiges zum Ausgleich für die Kommunen getan, finde ich. Der kommunale Finanzausgleich sorgt zum Beispiel dafür, dass reichere Kommunen in einen Topf einzahlen, aus dem dann ärmere Kommunen einen Ausgleich erhalten. Das ist Solidarität! Auch das Land selbst gibt an seine Kommunen mehr Geld als frühere Landesregierungen (unter anderen Parteikonstellationen) und baut trotzdem im Rahmen seiner Möglichkeiten die Schulden der Vorgängerregierungen ab! Der größte Brocken ist immer noch die Bundespolitik. Sie hat die größten Auswirkungen und hier muss der Wechsel her!
Welchen Nutzen haben die Kommunen konkret? Was wäre ohne EU nicht möglich gewesen? Welche Beispiele gibt es in Brandenburg?
Da kann ich eine fantastische Internetseite empfehlen: www.das-tut-die-eu-fuer-mich.eu. Hier findet sich sehr detailliert aufbereitet, was die EU in den letzten Jahren konkret bei uns vor Ort bewirkt und unterstützt hat. Und das ist eine Menge! Beispiel Teltow-Fläming, so ist auf dieser Internetseite zu lesen: "Die EU stellt dem Land Brandenburg im Förderzeitraum 2014-2020 insgesamt rund 362 Millionen Euro aus dem Europäischen Sozialfonds (ESF) zur Verfügung, um den Menschen zu helfen, die eine neue Arbeit suchen oder sich beruflich neu orientieren möchten. Im Landkreis Teltow-Fläming unterstützt der EU-geförderte Lotsendienst die Bürger dabei, Gründungsideen zu verwirklichen und begleitet sie auf dem Weg in die Selbstständigkeit.
In Teltow-Fläming wurden seit dem Jahr 2000 mehr als 200 Projekte mit rund 60 Millionen Euro aus Mitteln des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung (EFRE) gefördert. Auch das Geoportal Teltow-Fläming, ein Online-Dienst des Landkreises, wurde mit Hilfe von EFRE-Mitteln ermöglicht. Im Geoportal können Geodaten, Dienste und Metadaten des Landkreises abgerufen werden.
Kleinere Ortschaften wie Altes Lager in der Gemeinde Niedergörsdorf können ebenfalls von EU-Fördermitteln profitieren. Konkret wurde hier der Umbau des ehemaligen Umspannwerkes zu einem Ausbildungsraum für die Jugendfeuerwehr mit EU-Geldern unterstützt. Gleichzeitig nutzt die Dorfgemeinschaft den Mehrzweckraum etwa für Wahlen, Bürgersprechstunden oder Vereinsaktivitäten."
Ich finde, das ist nicht wenig und muss noch viel stärker publik gemacht werden! Wir haben alle etwas von der EU!
Sind sich die Kommunalpolitiker*innen dieser Möglichkeiten bewusst oder erfordert es noch weiterer Aufklärung und wer kann die leisten?
Wir alle, jede und jeder kann und muss diese Arbeit leisten. Die Politikerinnen und Politiker, indem sie mit den Bürgerinnen und Bürgern das Gespräch suchen und Zusammenhänge erklären. Die Bürgerinnen und Bürger, indem sie sich für Politik interessieren und aktiv einbringen, ihre Stimme erheben und klare Forderungen an uns in der Politik stellen. Wir als LINKE wollen, dass Menschen sich wieder stärker einmischen, europäisch wie vor Ort, und Gesellschaft aktiv gestalten. Die Zeit bis zur Wahl am 26. Mai 2019 muss genutzt werden, um über die Arbeit des EP weiter aufzuklären und den Bürgerinnen und Bürgern deutlich zu machen, welche Wirkung die europäische Politik entfaltet. Ich versuche, so oft wie es mir möglich ist, in meinem Wahlkreisen Brandenburg und Mecklenburg-Vorpommern unterwegs zu sein und mit den Leuten zu sprechen. Den Menschen muss gezeigt werden, dass es Gründe für ihre Beteiligung an der Wahl des EP gibt. Es bedeutet, sich selbst eine Stimme und Gehör in der Europäischen Union und dessen Parlament zu verschaffen, mitzugestalten an der europäischen Zukunft.
Mir ist klar, EU-Politik gehört weiterentwickelt und verbessert. Das erfordert aktive Beteiligung und Einmischung der Bürgerinnen und Bürger. Und so ist Wahlbeteiligung und Einmischung auch für alle Brandenburgerinnen und Brandenburger wichtig, denn das neu gewählte EP wird mit seinen Gesetzen und Entscheidungen auch den Alltag in Brandenburg beeinflussen – das EP wirkt vor Ort!
Mich stört aber insbesondere eine immer wieder zu hörende mangelnde Differenziertheit. So heißt es im Protest oft „Die da oben haben …“ oder „Die in Brüssel haben …“. So ist es ja nun nicht! Erst einmal sind es nicht immer nur „Die“, sondern ganz bestimmte politische Mehrheiten und Konstellationen. Es gibt immer eine andere Meinung und politische Parteien, die für diese stehen und um ihre alternative Position bei Wählerinnen und Wähler werben.
Dazu kommt, dass in Brüssel viel mehr Politik national gemacht wird, als alle denken. Die Regierungen aller Mitgliedsländer, so auch die deutsche Bundesregierung mit ihrer Großen Koalition, sitzen im EU-Ministerrat zusammen an einem Tisch. Entscheidungen werden hier in der Regel einstimmig getroffen und wirken EU-weit. Es ist also teilweise schon schizophren, wenn deutsche Regierungspolitik auf Europa schimpft. Als Sündenbock ist die europäische Ebene, die sich entfernter anfühlen kann, als die nationale, eben willkommen.
Hier sind Aufklärung und Redlichkeit gefordert: Von uns Politikerinnen und Politikern beim Erklären der Zusammenhänge und von den Bürgerinnen und Bürgern beim Interessieren für europäische Politik. Ein dickes Brett, ich weiß. Aber ich würde nicht noch einmal für das EP kandidieren, wenn ich nicht Optimist wäre.