Das Parlament muss die Verteilung der Sitze unter den Mitgliedstaaten für die nächste Legislaturperiode vornehmen und entsprechend dem EU-Rat vorschlagen. Dort schmort jedoch seit bereits zwei Jahren der Parlamentsvorschlag für die Wahlrechtsreform. Die notwendige transparente Debatte zur Stärkung der demokratischen Untersetzung europäischer Politik findet kaum statt. Beim aktuellen Entscheidungsprozess steht das EP diesmal aber vor besonders gravierenden Fragen: Die aktuelle Sitzverteilung verstößt gegen EU-Recht (Prinzip der degressiven Proportionalität) und erfordert eine grundlegende Änderung. Der Brexit wird verhandelt und berührt diese Frage ebenso grundsätzlich und auch die bereits 1998 geforderte Einführung transnationaler Listen harrt noch immer einer realen Umsetzung.
Alle Fraktionen, insbesondere die für den Berichtsentwurf Ko-verantwortlichen Fraktionen von EVP und S&D tun sich diesmal besonders schwer damit und konnten bis zum Schluss innerhalb ihrer Fraktionen und zwischen sich keine einheitliche Linie finden. Einer dauerhaften, prinzipiellen Lösung stehen zahlreiche nationale und zugleich parteipolitische Machtinteressen sowie das Bestreben, zentrifugalen Kräften keinen weiteren Spielraum zu überlassen, entgegen. Der verabredete Ausweg: Man bediene sich der Sitze der scheidenden britischen Abgeordneten, stößt damit aber auf den Widerstand der Effizienzfanatiker*innen, die nach dem Einsparpotential durch den Brexit schielen.
Unsere Linie: Recht ist auch in der EU umzusetzen, ob hierfür aber wirklich die britischen Sitze zur Verfügung stehen, können und sollten nur sie selbst entscheiden. Das Europäische Parlament wird das Ergebnis berücksichtigen.
Die Reden im heutigen Plenum:
Die Zusammensetzung des Europäischen Parlaments
"Anrede,
Montag informierte die EVP-Fraktion die Presse, dass die „von [ihr] ausgehandelte Vereinbarung zur Reduzierung der Parlamentssitze nach 2019“ diese Woche Priorität habe.
Fake News nennt man das. In der Realität reichte die Kraft der zerstrittenen EVP bekanntlich nur, das für zukünftige Sitzverteilungen dringend benötigte permanente System zu verhindern. Der vorliegende Bericht folgt auch nicht dem verbreiteten Schielen nach dem Einsparpotenzial des Brexit sondern rückt das Beheben des anhaltenden Rechtsbruchs bei der Sitzverteilung in den Mittelpunkt.
Verteilungsgerechtigkeit unter den Mitgliedstaaten, Transnationale Listen für politische Parteien und Bewegungen sowie zukünftige EU-Erweiterung sind die politischen Stichworte, für die potentiell frei werdende britische Sitze genutzt oder geparkt, aber nicht zurückgegeben werden sollen. Für uns als GUE/NGL war klar, dass der Bericht den Brexit juristisch ernst nehmen muss, der politische Prozess aber offen gehalten gehört, denn Geschichte ist offen. Auch für die Menschen im Vereinigten Königreich, ihre Rechte - so wie für die in den anderen EU-Mitgliedstaaten, einschließlich der Achtung des Karfreitag-Abkommens.
Der erzielte Kompromiss ist pragmatisch und politisch sinnvoll.
Aber es hätte dringend einer Debatte über die notwendige Stärkung der demokratischen Untersetzung europäischer Politik, d.h. über die Möglichkeit bedurft wie sich die Bevölkerungen mit ihren Interessen und Bedürfnissen Gehör verschaffen können. Und vielleicht auch darüber, wie das Europäische Parlament z.B. durch das Initiativrecht gestärkt wird - als von Bürger_Innen direkt gewählte Institution zur Gestaltung ihres Alltags. Das aber war mit dem politischen ,Weiter-so-Ansatz' der EVP bisher noch nicht möglich."
Die Reform des Wahlrechts der Europäischen Union
"Anrede,
Vielen Dank, für ihren heutigen Versuch einer Erklärung in der Sache.
Aus dem Blickwinkel der demokratischen Verfasstheit der EU ist es ein düsteres Zeichen, dass man zwischen den halbjährlichen Erklärungen kommender und gehender Ratspräsidentschaften, den Rat explizit vor dieses Haus zitieren muss, um zu verstehen was er da gerade so treibt. Dabei geht es nicht schlicht um Informationen. Es geht um die institutionelle Zusammenarbeit von EP und Rat, zu der laut Artikel 13 des Vertrages auch der Rat verpflichtet ist: in der Wahlrechtsreform genauso wie bei unserem Untersuchungsrecht.
Politisch kann ich das Problem des Rates nachvollziehen:
- Während dem Einen dies gefällt ergeht es einem Anderen genau umgekehrt; manchmal gefällt auch Allen nicht, was das Parlament vorschlägt.
- Während über dem Feld, auf dem das alte Spiel läuft politisch neue Sterne erstrahlen, machen sich gerade andere Spieler vom Platz.
- Wohl ermüdet von zu viel Suche nach Ausgleich ändert man intern die Spielregeln was die Zentrifuge anspringen lässt und nicht mehr nur Widerspruch provoziert sondern neuerdings den Widerstand organisiert.
Diesen Knoten bekommt der Rat offensichtlich nicht mehr aufgeknüpft, zu sehr verheddert er sich in den unterschiedlichsten politischen Interessenkonstellationen. Deshalb stellt sich für mich die Frage: Wenn nicht mehr kleine Schritte möglich sind und reichen, um die Dinge für die Mehrheit der Menschen in der EU zum Besseren zu bewegen, dann stellt sich die Frage nach einem großen „Referendum“. Die EU muss sich grundlegend ändern, muss demokratischer, sozialer, solidarischer, ökologisch nachhaltiger, transparenter, unbürokratischer und Frieden stiftend werden. Gelingt dies nicht, wird sich die Bevölkerung von ihr und der europäischen Idee einfach abwenden, ungeachtet und gerade wegen des ganzen ,Weiter-So-Geredes'.
Das ist das Maß, an dem sich die Zukunftsdebatte über die EU, das offensichtliche Versagen des Rates messen lassen muss."
Überarbeitung der Rahmenvereinbarung über die Beziehungen zwischen dem Europäischen Parlament und der Kommission
"Anrede,
Der Bericht des Kollegen Pons konzentriert sich vor allem auf die Haltung des Parlaments zum Spitzenkandidaten-Verfahren; und zwar vor dem politischen Hintergrund, dass im Rat jegliche Rechtsgrundlage für einen solchen verhindert werden soll.
Der gerade diskutierte Bericht zur zukünftigen Zusammensetzung des Parlamentes beeinflusst dieses Verfahren, weil er das Thema der transnationalen Listen und damit in der Konsequenz auch der Spitzenkandidaten aus der Ausschließlichkeit registrierter europäischer politischer Parteien nimmt und es hin zu Bewegungen öffnet.
Zur Haltung des Rates dazu werden wir vielleicht heute Nachmittag etwas erfahren und, ja, die Abstimmung zur zukünftigen Zusammensetzung des EP ist auch noch nicht erfolgt.
Damit stellt sich [mit dem Pons-Bericht] für mich v.a. ein anderes, noch nicht gelöstes Problem: die Teilnahme von Kommissaren im Wahlkampf. [Vorweggenommen: für mich ist das Handeln von Kommissar Sefcovic während der letzten EP-Wahlen Richtschnur.]
In dem Land aus dem ich komme ist der politische Wettbewerb im Rahmen von Wahlen verfassungsrechtlich unvereinbar mit einer ggf. parteiergreifenden Einwirkung von Staatsorganen oder deren Funktionsträger. Wähler sollen sich ihre Meinung in einem freien und offenen Prozess bilden können, und dies führt für uns zwangsläufig zu einem Neutralitätsgebot.
Nun ist die EU kein Staatswesen und wir haben auch keine Verfassung. Aber das Neutralitätsgebot sollte analog dennoch gelten. Dies wirft die Frage auf: Wann agiert ein Kommissar gerade mit der Autorität seines Amtes und nimmt damit verbundene Ressourcen in Anspruch oder wann ist er nur parteipolitisch unterwegs. Konflikt- und auslegungsfrei und öffentlich nachvollziehbar kann dies nur auf dem Weg einer unbezahlten Freistellung von Kommissaren von ihren Aufgaben erfolgen.
Anderen Ansätzen sollte das Parlament nicht zustimmen."