Im Januar 2016 ist die vertiefte und umfassende Freihandelszone zwischen der Ukraine und der EU in Kraft getreten. Haben sich die Befürchtungen der ehemaligen Regierung um Wiktor Janukowitsch bestätigt, das sich das Abkommen für die Ukraine als negativ erweisen würde?
Nutznießer dieses Abkommens ist vor allem der ukrainische Agro-Businesssektor. Heute ist die Ukraine bereits der größte Eierproduzent Europas, in der Getreideproduktion sind die Zuwachsraten enorm. Bei den Beschäftigten im Agrohandel, die den Bedingungen des Abkommens unterworfen sind, sieht das schon wieder anders aus. Zugleich nutzen verstärkt Maschinenbauunternehmen aus EU-Mitgliedstaaten das qualifizierte und gut ausgebildete Potenzial der ukrainischen Werktätigen. Für Unternehmen aus der EU geht es um Wettbewerb, Standortvorteile und die Erweiterung ihrer Wertschöpfungsketten. Also auch um Produktionskosten im internationalen Vergleich und deshalb wird Produktion z.B. aus den Niederlanden oder aus Deutschland in die Ukraine verlagert.
Warum hat die Janukowitsch-Regierung die Verhandlungen überhaupt so weit getrieben?
Die Janukowitsch-Regierung hatte versucht, die wirtschaftlichen Beziehungen sowohl mit Russland fortzuführen und zugleich mit der EU zu entwickeln. Das EU-Abkommen hat eine wichtige Rolle im politischen wie wirtschaftlichen Versuch gespielt, die Öffnung der Ukraine zum Westen zu organisieren, konkret zur Europäischen Union. Diese Doppelstrategie war zugleich Ausdruck des Machtkampfes zwischen den Oligarchen in der Ukraine. Und dieser hat meines Erachtens letztendlich den Ausschlag gegeben, warum die Janukowitsch-Regierung nach der Paraphierung des Abkommens im Europäischen Parlament ein Stoppzeichen gesetzt hat. Mit der Ratifizierung des Abkommens ist die Doppelstrategie beendet und die eindeutige Ausrichtung auf die EU umgesetzt worden.
Wir müssen uns aber von den einzelnen Regierungen lösen. Auch die langjährige Ministerpräsidentin und Janukowitsch-Gegnerin Julia Timoschenko und vor ihr bereits Ex-Präsident Leonid Kutschma wollten dieses Abkommen und forcierten zugleich die Gaslieferung aus Russland. Die unterschiedliche Gewichtung der Zusammenarbeit gegenüber Russland und der EU hat in der Ukraine immer eine Rolle gespielt und tut es bis heute.
Welche Prioritäten hat die EU in den Verhandlungen mit der Ukraine über das Freihandelsabkommen gelegt und inwiefern wurden die ukrainischen Bedürfnisse berücksichtigt?
Ein so umfangreiches Assoziierungsabkommen – mit dem Freihandelsabkommen als Kern – ist immer auf die weitgehende Liberalisierung aller wirtschaftlichen Lebensbereiche ausgerichtet. Das Hauptinteresse der EU-Mitgliedsstaaten ist ein erweiterter Markt. Ukrainische Unternehmen wiederum, die Stahlprodukte, Metalle oder landwirtschaftliche Produkte liefern, haben das Interesse, auf dem europäischen Markt Fuß zu fassen und neue Märkte zu erschließen.
Wer sind die Kräfte in der EU, die die Annäherung der Ukraine forcieren?
Das sind insbesondere mittel- und osteuropäische Mitgliedsstaaten. Die baltischen Staaten eher aus geopolitischen, Polen auch aus wirtschaftlichen Erwägungen. Außerdem Deutschland, Frankreich und Großbritannien.
Warum Deutschland?
Als größte Volkswirtschaft in der Europäischen Union hat Deutschland das Interesse, neue Märkte zu erschließen. Gerade in Umbruchprozessen des Maidan wurde versucht, die gesellschaftlichen Verhältnisse dahingehend zu beeinflussen.
Wie funktioniert das konkret?
Bis auf die Linksfraktion haben fast alle anderen politischen Kräfte im Europäischen Parlament die politische Differenzierung der ukrainischen Gesellschaft und der politischen Akteure intensiv von außen beeinflusst und begleitet. Die Europäische Volkspartei, insbesondere auch die CDU/CSU, waren ständig vor Ort. Der ehemalige Europa-Abgeordnete Elmar Brook war zum Beispiel Berater des ukrainischen Präsidenten.
Nach dem Maidan.
Nach dem Maidan, aber auch schon zuvor gab es Ansprechpartner für die verschiedenen politischen Parteien in der Ukraine. Die Transformation der ukrainischen Gesellschaft zu einem neoliberal geprägten kapitalistischen Wirtschaftsmodell nach dem Zerfall der UdSSR wurde von vielen Parteien in der EU-28 offensiv unterstützt.
Der neue ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj hat sich im Wahlkampf zur Kooperation mit dem IWF und zur fortgesetzten Westintegration bekannt.
Selenskyj ist unter den Wertvorstellungen einer kapitalistischen Gesellschaft groß geworden. Für ihn sind der Währungsfonds oder die Weltbank Wertgrößen, die das Wirtschaftsmodell der Ukraine mit beeinflussen.
Was bedeutet das für eine Lösung des Konfliktes in der Ukraine?
Der gegenwärtige Status quo ist politisch. Für eine langfristige Lösung muss es eine Beteiligung der ostukrainischen Bevölkerung geben. Das erfordert, deren Interessenlagen stärker zu berücksichtigen und sie in den Prozess der Konfliktlösung einzubeziehen. Zugleich muss Selenskyj die De-Oligarchisierung vorantreiben, weil die Oligarchen nach wie vor die Stichwortgeber sind.
Das hieße, die Machtfrage zu stellen.
Ich bin zu sehr politischer Realist und Optimist als zu sagen, dass es nicht machbar wäre. Die Verhältnisse erfordern eine politische Veränderung.
In der Linkspartei wird immer wieder gefordert, Putins Vorschlag einer Freihandelszone von Lissabon bis Wladiwostok aufzunehmen. Dabei sind linke Positionen eigentlich unvereinbar mit Freihandelsabkommen.
Die Vorstellung einer Freihandelszone von Portugal bis Wladiwostok ist naiv, weil sie die unterschiedlichen sozialen und wirtschaftspolitischen Bedingungen ausblendet. Das Freihandelsabkommen EU-Ukraine ist das beste Beispiel dafür, dass es um die komparativen Vorteile in der Ukraine für westeuropäische, deutsche und andere Unternehmen geht, die leider nicht an höchst mögliche soziale und umweltpolitische Standards und mit bindenden Durchsetzungsinstrumenten gekoppelt sind. Insofern hat das Assoziierungsabkommen auch wenig mit der auf der Tagesordnung stehenden Überwindung der Schere zwischen Arm und Reich in der ukrainischen Gesellschaft zu tun. Menschenrechte, soziale, umweltpolitische Belange müssen Kriterien für die Bewertung von wirtschaftlicher Entwicklung und Handelsströmen sein. Dabei spreche ich noch nicht einmal von Eigentumsverhältnissen, sondern von der Kontrolle über Wirtschaftsentscheidungen. Eine entsprechende Umorientierung der Nachbarschaftspolitik gegenüber der Ukraine, gegenüber den anderen östlichen Nachbarschaftsstaaten, auch gegenüber Russland, wäre ein Schritt in die richtige Richtung.
Foto: 123 RF
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