Mit der heutigen Wahl von Ursula von der Leyen zur Kommissionspräsidentin ist die eigentlich so dringend notwendige Stärkung demokratischer Entscheidungsprozesse, die Transparenz bei der politischen Willensbildung erneut geschwächt worden - ungeachtet der wohlklingenden und mit Bedacht gewählten allgemeinen Worthülsen der Kandidatin des Europäischen Rates. Dieser hat sich über das Spitzenkandidat*innen-Prinzip hinweg gesetzt, hat die Versprechen an Millionen Wähler*innen in den Wind geschlagen. Ein eklatanter Wortbruch mit sicherlich gravierenden Folgen für die Fähigkeit der EU, gemeinsame Lösungswege aufzuzeigen. Erneut haben sich nationale Egoismen und machtpolitische Ansprüche gegenüber gemeinschaftlicher Verständigung durchgesetzt zu den vielen, alle Bürger*innen der 28 EU Mitgliedstaaten betreffenden Fragen ihres Alltags: von der Sicherung bzw. Schaffung neuer Arbeitsplätze in einer von tiefen Umwälzungen geprägten Arbeitswelt angesichts des Klimawandels, sozial gerechte und gleichartige Lebensverhältnisse zu schaffen, Klimagerechtigkeit durchzusetzen und den sozial-ökologischen Umbau unserer Gesellschaft in allen Bereichen tatsächlich anzugehen, dabei Frieden und weltweite Solidarität und Offenheit für die Belange des Lebens der Menschen auf allen Kontinenten nicht zu vergessen.
Wer wird künftig in der von der neuen EU-Kommissionschefin angekündigten, auf zwei Jahre angesetzten Konferenz mit den Bürger*innen zur Zukunft Europas noch Vertrauen in die europäischen Institutionen haben? Das aber ist vonnöten, wenn Bürgerinnen und Bürger aus Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommernund alle 500 Millionen EU-Bürger*innen sich aktiv einbringen sollen in die Gestaltung unseres Gemeinwesens in all seiner Vielfalt, die es zu wahren gilt.
Die heutige Wahl ist ein Fehlstart und ein Rückschlag für die vom Europäischen Parlament unternommenen Anstrengungen für mehr Demokratie. Mit der Wahl von Frau von der Leyen droht der vor den Europawahlen beschworene Kurswechsel auf der Strecke zu bleiben, zu allgemein und vage blieb sie in Bezug auf die von vielen Menschen erwartete konkrete Ankündigung eines Politikwechsels hier und heute. Wir brauchen konkrete Vorschläge und endlich Taten für einen konsequenten Klimaschutz ebenso wie die Stärkung der gemeinsamen sozialen Rechte, um die Lebensverhältnisse aller EU-Bürger*innen anzugleichen, soziale Ungleichheit abzubauen und abgehängte Regionen zu unterstützen. Es gilt, den vom Europäischen Parlament längst beschlossenen globalen Pakt für Migration nicht erneut aufzurufen, sondern endlich umzusetzen. Es gilt, den EU-weiten Mindestlohn gegen den Widerstand vieler nationaler Regierungen durchzusetzen - jeweils 60% des durchschnittlichen nationalen Medianeinkommens. Es gilt, mindestens 55% CO2 Senkung bis 2030 zu realisieren, um 2050 wirklich klimaneutraler Kontinent zu sein; nicht als erster, sondern gemeinsam mit den anderen Kontinenten. Es gilt, endlich sich EU-weiter Steuerpolitik anzunehmen mit dem Ziel des Austrocknens aller Steueroasen und der Herstellung von Steuergerechtigkeit in allen 28 Mitgliedstaaten in den nächsten 3 bis 5 Jahren. Wir brauchen keine Politik der Abschottung, Stärkung von Frontex und Aufbau einer Verteidigungsunion mit Aufrüstungsprogrammen, sondern Zukunftsinvestitionen in Infrastrukturen, Bildung und Gesundheitswesen, in Forschung und Innovation zur Begleitung von notwendigen wirtschaftlichen Umstrukturierungen in so vielen Regionen der EU 28, eine Neufassung der gemeinsamen Agrarproduktion, den Erhalt der ländlichen Räume bei gleichzeitiger Stärkung regionaler Wirtschaftskreisläufe. Und so vieles mehr: Nur so kann die EU demokratisch, sozial, klimagerecht und friedlich gestaltet werden.
Ich will nicht, dass das gestiegene Interesse der Bürger*innen an EU-Politik so schnell wieder zunichte gemacht zu werden droht, dass auch weiterhin politische Entscheidungen zur zukünftigen Ausrichtung der EU ohne Einbindung des Parlaments und somit auch über die Köpfe der Menschen hinweg gefällt werden. Deshalb gelten all diese Forderungen nun als Kriterium der Wahrheit für Ursula von der Leyen als neuer Kommissionspräsidentin. Sie muss liefern. Schon bei der Präsentation der Kandidatinnen und Kandidaten für die neue EU-Kommission.