Am 29. April hat ein EU-Sondergipfel über das weitere Vorgehen mit der britischen Austrittserklärung beraten. Helmut Scholz sieht komplizierte Brexit-Verhandlungen. Ein Interview.
F.: Großbritannien hat Ende März offiziell den Austritt aus der Europäischen Union erklärt. Wie geht es nun weiter?
A.: Das Prozedere ist im Artikel 50 des EU-Vertrags eindeutig geregelt. Nachdem das offizielle Austrittsschreiben aus London nun vorliegt, werden die EU-Gremien ihre Verhandlungslinie festlegen. So werden auf dem Sondergipfel der 27 Staats- und Regierungschefs am 29. April die entsprechenden Leitlinien festgelegt. Darauf basierend wird die Europäische Kommission den Start der Verhandlungen und ein Verhandlungsmandat vorlegen. Dieses Mandat muss dann wiederum vom Rat, dem Gremium der Regierungen, bestätigt werden. Das wäre dann der offizielle Auftrag für das Verhandlungsteam, das vom früheren EU-Kommissar Michel Barnier geleitet wird. Bis etwa Oktober 2018 sollen die eigentlichen Verhandlungen über den Austritt des Vereinigten Königreiches und über Übergangsregelungen abgeschlossen sein.
Danach muss das Austrittsabkommen vom Europaparlament gebilligt und von den EU-Mitgliedsländern angenommen werden. Insgesamt darf der gesamte Prozess nicht länger als zwei Jahre dauern, beginnend mit dem Tag des Eintreffens des Austrittsschreibens in Brüssel.
Das Europäische Parlament hat seinerseits Anfang April Bedingungen für die Brexit-Verhandlungen beschlossen. Darin enthalten sind solche „basics“ wie Transparenz der Gespräche, Ablehnung von „Rosinenpickerei“, punktuellen Wirtschaftsbeziehungen oder der Einschränkung der Personenfreizügigkeit, die sich nach den Vorstellungen von London vor allem gegen „unbeliebte“ Ausländer oder Migranten richten sollte. Ausdrücklich verlangt das Europäische Parlament dagegen, dass die Interessen der Bürger von Anfang an im Mittelpunkt der Verhandlungen stehen müssen – eine Forderung, die gerade auch die Linksfraktion immer wieder erhoben hat. Dies ist auch wichtig, weil die Erfahrung mit britischen Sonderklauseln und sogenannten Opt outs befürchten lassen, dass die konservative britische Regierung den Brexit und die Gespräche dazu nutzen wird, letztlich einen noch schärferen neoliberalen Kurs einzuschlagen. Das muss verhindert werden. Die Interessen jener, die abgestimmt haben, dafür oder dagegen, sind genauso ernst zu nehmen wie die Situation der Bürgerinnen und Bürger in den anderen 27 Partnerstaaten Großbritanniens in der EU.
F.: Der Brexit wirft viele Fragen auf. Dazu gehören die künftige Stellung Irlands und Nordirlands, deren Verflechtungen untereinander und die Beziehungen zum britischen „Kernland“. Sie fordern, dass die irische Bevölkerung nicht zu Verlierern des Londoner EU-Austritts werden darf. Ist diese Gefahr tatsächlich real?
A.: Diese Gefahr ist sehr real. Erinnern wir uns: Noch vor knapp zwei Jahrzehnten war die irische Insel von blutiger Gewalt gezeichnet. Die mit dem Karfreitagsabkommen von 1998 eingeleitete Befriedung des Nordirlandkonflikts ist aufs Engste mit der ökonomischen und sozialen Entwicklung auf der irischen Insel verknüpft. Den Rahmen dafür hat nicht zuletzt die EU geschaffen, denn sie ermöglichte es, dass beide Teile der irischen Insel zusammenwachsen konnten, ohne als Voraussetzung hierfür die offene nationale Frage lösen zu müssen.
Mit dem Brexit würde nun Nordirland, das Teil des Vereinigten Königreichs ist, ebenfalls aus der EU ausscheiden. Es gäbe also faktisch erneut eine Grenze zwischen dem EU-Mitgliedsstaat Irland und dem Landesnorden. Erneut eine Grenze zu bekommen bedeutet die Wiedereröffnung mindestens der 277 ehemals offiziellen Grenzübergänge zwischen Irland und dem Norden, durch die sich dann, werden die Handelsströme zwischen beiden Teilen nicht unterbrochen täglich zwischen 16.000 bis 25.000 Grenzgänger zur Arbeit quälen müssen. Gerade in den Grenzregionen ist die Verflechtung sehr weit vorangeschritten. Spricht man mit den Menschen vor Ort, wird immer wieder betont, dass Grenzen, die wieder durch Dörfer, Höfe und Familien gehen, dass Kontroll- und Zollstellen für sie unvorstellbar sind. Und noch ein anderes Beispiel: Bei der Versorgung von medizinischen Notfällen werden die Patienten jeweils ins irische Dublin oder in das nordirische Belfast gebracht, dorthin, wo es medizinisch am sinnvollsten ist und das unabhängig von der Frage, kommt der Patient aus dem Nord- oder Südteil der Insel. Bei alltäglichen Sozialleistungen wie zum Beispiel der Kindergartenbetreuung spielt in der Nähe der ehemaligen Grenze der Landesteil, aus welchem das Kind kommt so gut wie keine Rolle mehr.
Generell sind auf der irischen Insel zwischen Nord und Süd in den vergangenen Jahren vielfältige gesellschaftliche und Wirtschaftsverflechtungen, neue Wertschöpfungsketten sowohl in der Landwirtschaft als auch in der Industrie, Kooperationsformen beispielsweise im Gesundheitswesen entstanden, die durch den Brexit durchgeschnitten würden – und damit die Lebenssituation der Menschen rapide verschlechtern und alte Konflikte neu aufflammen lassen könnten.
F.: Wie können diese Probleme gelöst werden?
A.: In der bereits angeführten Resolution des Europäischen Parlaments ist ganz klar festgeschrieben, dass am Friedensprozess auf der irischen Insel festzuhalten ist und eine „harte“ Grenze verhindert werden muss. Den besonderen Umständen des Friedensprozesses solle daher in dem Austrittsabkommen „vorrangig Rechnung getragen werden“.
Dazu wäre es nach meiner Meinung wichtig, ein spezielles Komitee einzurichten, das sich kontinuierlich mit den Auswirkungen der verschiedenen Verhandlungspunkte auf den Konflikt auf der irischen Insel beschäftigt. Schließlich sind die Konsequenzen des Brexit in ihren Details noch nicht vollständig zu überschauen. Auch eine Arbeitsgruppe aus Abgeordneten der nationalen Parlamente und des Europaparlaments wäre sicher sinnvoll, um diese Frage zu erörtern. Ich glaube zudem, dass es sinnvoll wäre, Nordirland einen Sonderstatus in der EU zu geben, um die auch seitens der EU mit dem Karfreitag-Abkommen eingegangenen Verpflichtungen für den Friedensprozess in Nordirland einzuhalten und zugleich die in den vergangenen Jahren geknüpften Beziehungen beider Teile der Insel über die Landesgrenze hinweg zu erhalten.
Gerade der Brexit und die Folgen für die irische Insel führen noch einmal ganz deutlich vor Augen, dass eine Sozialpolitik, die diesen Namen auch verdient, für die EU überfällig ist. Wenn die Menschen „Europa“ als Gefahr für ihre Jobs und für ihre Lebensverhältnisse wahrnehmen – und dafür gibt es gute Gründe! – werden sie der EU ihr Vertrauen entziehen.