Europapolitiker Helmut Scholz zum Konflikt über das Freihandelsabkommen EU–Kanada¶
Helmut Scholz ist Europaabgeordneter der LINKEN und handelspolitischer Koordinator der GUE/NGL-Fraktion. Über CETA und TTIP, die Position der Linkskräfte und die Demokratie in der EU sprach mit ihm für »nd« Uwe Sattler.
F.: Was passiert, wenn CETA nicht unterzeichnet werden würde?
A.: Erst einmal bliebe es beim gegenwärtigen Handelsaustausch, Import und Export von Waren und auch Dienstleistungsangeboten so wie diese bislang vereinbart sind. Auch die vereinbarten Zulieferungen in aufeinander abgestimmten Produktionszyklen mit den geregelten Herstellungs- und Verbraucherpreisen, inklusive gegebenenfalls anfallender gegenseitiger Zollzahlungen, blieben sicherlich eine Zeit lang unverändert.
Allerdings muss man sich noch einmal vergegenwärtigen, wozu dieses umfassende Wirtschafts- und Handelspartnerschaftsabkommen abgeschlossen werden soll. Beabsichtigt ist ein entscheidender Schritt in Richtung weiterer Vernetzung beider Volkswirtschaften, sowohl der EU 28 – ausdrücklich also aller noch 28 Mitgliedstaaten – und Kanadas, mit dem Ziel möglichst weitgehender Aufhebung aller Zollzahlungen auf alle miteinander gehandelten Produkte, vor allem jedoch, um Wettbewerbsregeln gemeinsam neu aufzustellen. Dies soll in allen volkswirtschaftlichen Bereichen erfolgen. Und insofern ist CETA viel mehr als ein Handelsabkommen. Es geht um die Vereinbarung gemeinsamer Standards, um den gegenseitigen Marktzugang auf allen Ebenen für Unternehmen in Wirtschaft und im Beschaffungswesen, um Fragen, wie geistiges Eigentum geregelt wird, z.B. Patentschutz oder landwirtschaftliche Erzeugnisse und, und, und. Es geht mit CETA um die Neugestaltung eines gemeinsamen Marktes Kanadas und der EU. Ich glaube, der große Widerstand gegen CETA kommt vor allem daher, dass wohl kaum ein Bürger richtig abschätzen kann, was das real für ihn bedeutet, für Verbrauchsgewohnheiten, für die Existenz der kleinen und mittelständischen Unternehmen, für Arbeitsplätze. Auch nach dem Studium des 1600 Seiten umfassenden Abkommens ist es durchaus schwierig, bis ins Detail nachvollziehbare und vorhersagbare Klarheit darüber zu gewinnen. Sicher aber ist: Die neuen Beziehungen, die mit CETA angestrebt werden, können erreichte Standards und Schutzniveaus, sogenannte nichttarifäre Handelshemmnisse, fraglich und damit offen für Eingriffe des jeweils anderen, ausländischen Marktteilnehmers, machen. Wie also wird künftig Privatisierungsdruck widerstanden und öffentlicher Raum als nicht von privaten Gewinninteressen ausländischer Marktteilnehmer abhängig bewahrt werden können? Regelungen in Bezug auf Produktion und Handel, die wir beispielsweise in Bezug auf die Wirkungsweise von Unternehmen auf dem EU-Binnenmarkt erreicht haben, von Dienstleistungen, von Produktion, aber auch von Finanzdienstleistungen werden Wettbewerbsdruck des angestrbeten größeren Marktes unterworfen. Käme CETA nicht, bliebe vieles erst einmal beim Alten, zugleich wird aber auch zu vergegenwärtigen sein, dass sich Kanada stärker anderen Partnern zuwendet, insbesondere jenen im transpazifischen Raum, mit denen das TPP -Abkommen ausgehandelt wurde.
F.: Sind die Linken froh über das mögliche Scheitern von CETA?
A: Wir sind für einen fairen Welthandel. Es geht darum, angesichts der Globalisierung faire, alternative und transparente Handelsbeziehungen neu zu knüpfen. So muss beispielsweise nicht alles quer über den Erdball geschippert werden, wir müssen uns statt dessen stärker auf die regionalen Wirtschaftskreisläufe, die Zirkularwirtschaft, neue Formen der Produktion vor Ort oder bei der Energieerzeugung, bei der biologischen landwirtschaftlichen Produktion konzentrieren. Handelsbeziehungen müssen die Lebensumstände und die Produktionsbedingungen in dem jeweiligen anderen Markt mit berücksichtigen. Das muss multilateral, international vereinbart werden. Ich glaube, was derzeit mit den Diskussionen um die megaregionalen Wirtschafts- und Handelsabkommen an die Oberfläche kommt, ist ein tiefes Nachdenken über die Art und Weise der Produktion, die Gewinnung und Nutzung von Rohstoffen, die Bedingungen, unter denen produziert und konsumiert wird. Insofern ist das Ringen um CETA auch für uns Linke ein wichtiges Signal, uns diesen Fragen nicht nur in Sonntagsreden zu stellen. CETA beantwortet diese Fragen nicht, enthält zu viele Bestimmungen, die gerade diese Aufgabe verhindern oder erschweren. Deshalb ja, es wäre gut wenn es nicht kommt; aber die Wirtschaftskreise in der EU und Kanadas sind starke Protagonisten, die alles versuchen werden, im Interesse ihrer Wettbewerbslogik CETA doch noch zustande kommen zu lassen und den Regierungen Kanadas sowie der EU-Mitgliedstaaten, der EU Kommission und der Noch-Mehrheit des Europäischen Parlaments, wie auch des Bundestages, ist das Abkommen ebenfalls zu wichtig, als es nicht kommen zu lassen. Der Zickzack um den EU-Kanada Gipfel ab Mittwoch in Strasbourg und Brüssel belegt das deutlich.
F.: Heißt das, auch TTIP ist nicht zu stoppen?
A.: Ich glaube, die Meinung, TTIP sei tot, trifft so lange nicht zu, wie das Mandat für dieses Abkommen nicht verändert oder aufgehoben wird. Die Kommission ist legal an den ihr einstimmig durch die Staats- und Regierungschefs erteilten Verhandlungsauftrag von 2013 gebunden. Auch das Europäische Parlament ist, wie bei CETA, de jure noch außen vor. Wir haben noch nicht einmal begonnen, den fertig verhandelten CETA-Text, einschließlich der jetzt zusätzlichen Protokollerklärungen, im parlamentarischen Verfahren offiziell zu prüfen. Das kann erst erfolgen, wenn das Abkommen unterzeichnet werden sollte. Und dies gilt auch für das parlamentarische Verfahren im Falle eines TTIP. Das wiederum bedeutet aber politisch für alle Seiten: Wenn der Vertrag weiter verhandelt wird, dann müssen wir deutlich machen, dass wir keinen transatlantischen Markt wollen, der einseitig insbesondere die großen Unternehmen auf beiden Seiten des Atlantiks bevorteilt und viele direkte Interessen der Menschen auf beiden Seiten des Atlantiks und ihre sich verändernden Ansichten zur Wirtschaftspolitik, zu Wachstumslogik und neuen Konsumbedürfnissen außen vor lässt. Insofern ist TTIP nicht tot, es gilt einfach, darüber nachzudenken, wie wir Druck auf die Regierungen der Mitgliedstaaten machen können, damit der Rat sein erteiltes Mandat an die Kommission verändert.
F.: Welche Alternativen gibt es zu den sogenannten Mega-Regionalen Abkommen?
A.: Wir brauchen Vereinbarungen, die über das bei der 10. Ministerkonferenz der WTO in Bali erreichte und im Sommer in Nairobi auf den Weg gebrachte Handelserleichterungsabkommen hinausgeht. Wir brauchen eine konstruktive, tragfähige ergebnisreiche Beendigung der DOHA-Runde und zugleich die Befassung mit sogenannten „neuen Themen“ im Rahmen der WTO um die Komplexität heutiger handels- und Wirtschaftspolitik mit ihren Auswirkungen auf den Alltag der bald 8 Millionen Menschen weltweit zu erfassen. Wir brauchen Abkommen, die die Produktionsbedingungen vor Ort und z.B. umweltpolitischen Aspekte auch in der Gestaltung der Handelsbeziehungen in fairen Vereinbarungen verbindlich und durchsetzbar festhält. Das heißt zum Beispiel, dass wir sagen, die Erzeugung von nicht-genmanipulierten Waren muss ebenso abgesichert werden dies bei der industriellen Produktion in der Landwirtschaft geschieht. So etwas geht nur multilateral und muss verbindliche und durchsetzbare Mechanismen beinhalten für den Fall, dass Unternehmen in bilateralem oder multilateralem Handel Menschenrechtsnormen, Umweltnormen, Verbraucherschutznormen verletzen, die auf dem jeweiligen Markt herrschen. Wir brauchen nicht nur das Recht von Investoren, ihre Investitionen zu schützen – was ich durchaus anerkenne –, wir brauchen zugleich die Möglichkeit, dass sich auch von Investitionen negativ Betroffene zur Wehr setzen können. Und das auf normalen Rechtswegen, ohne private Schiedsgerichte.
F.: Vor dem Hintergrund der CETA-Entscheidung ist Kritik laut geworden, die EU sei nicht in der Lage, internationale Handelsabkommen abzuschließen. Ist es ein Vorteil oder ein Manko, dass selbst kleine Regionen solche Abkommen blockieren können?
A.: Die Interessen vor Ort müssen in Rechnung gestellt werden. Handelspolitik wie jede Politik muss demokratisch begleitet und umgesetzt werden. An dem Beispiel Wallonien oder der Region Brüssel zeigt sich nun eben, was die im Lissabon-Vertrag festgeschriebene Kompetenzübergabe in internationalen Handelsfragen an die EU praktisch bedeutet und wie weit damit in die gewohnte Souveränität der Staaten eingegriffen wird. Das heißt doch, dass Entwicklungen im Binnenmarkt und nun auch in der Handelspolitik anders als bisher einer demokratischen Rückkoppelung zu den Menschen erfordert, die eine Möglichkeit der Teilhabe an der weiteren gesetzgeberischen Gestaltung der sich weiter entwickelnden Bedingungen in Wirtschaft und eben auch Handel ermöglichen müssen. Mit der Kompetenz der EU, internationale Handelsabkommen abzuschließen, wird ein folgerichtiger Schritt der äußeren Verbindung des EU-Binnenmarktes mit anderen Märkten gegangen. Das war einer der Ausgangspunkte für die Ausweitung des Lissabon-Vertrags. Dieser Schritt ist leider, von der Linken zu recht kritisiert, allerdings nicht diskutiert worden in den Mitgliedsländern. Die Bürger werden jetzt mit den Ergebnissen konfrontiert, ohne dass sie je die Möglichkeit hatten, über diese Fragen mit nachzudenken. Hier gilt es für alle schnell und gründlich konstruktive Schlussfolgerungen zu ziehen und die Wirtschafts- und Handelspolitik der EU neu zu gestalten.
https://www.neues-deutschland.de/artikel/1030012.das-parlament-ist-noch-aussen-vor.html?sstr=Scholz