Die in Berlin erscheinende Tageszeitung "neues deutschland" berichtete in mehreren Texten über das Rechtsstaatsverfahren der Europäischen Kommission gegen Polen und gab dabei Positionen von Helmut Scholz wieder. Wir dokumentieren die Beiträge.
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neues-deutschland.de / 14.01.2016
Das Zaudern Europas gegenüber Polen und Ungarn
Polen hat vom Rechtsstaatsmechanismus nichts zu befürchten: Weil er nur halbherzig eingesetzt wird - und wegen Viktor Orban
Stephan Fischer
Die Waffe der Europäischen Kommission gegenüber dem Staatsumbau in Polen ist stumpf: Die »europäischen Standards«, die ihm zugrunde liegen, sind mittlerweile beliebig geworden. Und wirklich einsetzen will ihn auch niemand.
Es ist ein Zaudern in Brüssel und in den europäischen Hauptstädten zu spüren, nachdem die EU-Kommission am gestrigen Mittwoch ihre vermeintlich stärkste Waffe gegen die neue polnische Regierung, die die Partei PiS (Prawo i Sprawiedliwość, Recht und Gerechtigkeit) allein stellt, auf den Verhandlungstisch packte – den sogenannten Rechtsstaatsmechanismus. Nur in Warschau blieb es erwartungsgemäß nicht ruhig. Die polnische Regierungschefin Beata Szydlo wies die Prozedur umgehend zurück: »Es gibt in der EU viele wichtigere Dinge, um die man sich kümmern muss«, sagte sie. »Polen hat das Recht, souveräne Entscheidungen zu treffen.« Mit den souveränen Entscheidungen meint sie die von der PiS angestoßenen Reformen der Justiz, insbesondere des Verfassungsgerichts, der höheren Beamtenschaft und die Neubesetzung der Führungsposten in öffentlich-rechtlichen Medien. Das Ausmaß und die Schnelligkeit lassen den Schluss zu, dass die PiS-Regierung den polnischen Staat massiv umgestalten will.
Im EU-Parlament wurde die Einleitung des Verfahrens vor allem von Sozialdemokraten, Liberalen und Grünen begrüßt: Die EU-Kommission müsse eine unabhängige Presse und Justiz in Europa schützen (SPD-Europaabgeordnete Sylvia-Yvonne Kaufmann), es müsse einen Dialog ohne Vorverurteilung und ohne schrille Töne aus Brüssel und Berlin geben (Euro-Grünen-Chef Reinhard Bütikofer), die neue Verfassungsgerichtsbarkeit sei nichts anderes als die Lähmung der dritten Gewalt und damit nicht mit den Werten der EU vereinbar (FDP-Europaabgeordneter Alexander Graf Lambsdorff).
Im Kern bekommt die polnische Regierung nun erst einmal einen Satz von Fragen zu den neuen Gesetzen zugesandt. Am Ende des Verfahrens könnte die Aufforderung stehen, die in vergangenen Wochen erlassenen Gesetze wieder zurückzuziehen. Diese Waffe, die die EU-Kommission dort auf den Tisch gepackt hat, ist stumpf: Zum einen lassen sich Gesetze ohne viel Mühe mit ein paar sprachlichen Neuformulierungen »EU-konform« gestalten. Und selbst wenn die polnische Regierung es auf einen offenen Konflikt mit der EU-Kommission ankommen ließe – ihr drohen kaum schwerwiegende Konsequenzen. Es ist kein Zufall, dass sich in dieser doch angeblich die Wertesubstanz der EU betreffenden, grundlegenden Frage seit Wochen nur der stellvertretende EU-Kommissionschef Frans Timmermans in vorderster Linie zeigt – und das auch mit sehr beschwichtigender Rhetorik: Es gehe nicht darum, Polen anzuklagen, sondern darum, die Probleme gemeinsam zu lösen. Und EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker? Der bemühte sich vergangenen Dienstag noch einmal klarzustellen, dass es sich aus seiner Sicht nur um eine »Routineprozedur« handeln würde – und Sanktionen wie die Aussetzung der Stimmrechte nach Artikel 7 des EU-Vertrags hätte Polen auch nicht zu erwarten.
Der polnische Regierungssprecher Rafal Bochenek ist damit rhetorisch ganz auf Kommissionslinie, wenn er sagt: »Das ist eine Standardprozedur, wir sollten da nichts dramatisieren.« Die PiS-Regierung kann sich nämlich sicher sein, dass schwerwiegende Sanktionen, die einstimmig in den EU-Gremien beschlossen werden, nicht zustande kommen – nicht zuletzt dank Viktor Orbán. Der ungarische Ministerpräsident und der Mann, der hinter der polnischen Regierung steht, Jaroslaw Kaczynski, trafen sich Anfang 2016 im südpolnischen Niedzica zu einem informellen Treffen. Die Gespräche dauerten mehr als sechs Stunden. Offizielle Informationen zu der Begegnung gab es nicht – aber zwei Tage später kündigte Orbán an, mögliche Sanktionen gegen Polen zu blockieren: »Ungarn würde niemals Sanktionen gegen Polen unterstützen«, sagte er in seiner wöchentlichen Radioansprache. »Ich rufe zu mehr Respekt für die Polen auf, weil sie dies verdienen.« Kein Wunder, hat doch die Regierungspraxis der PiS offenbar in den ersten Tagen jene von Fidesz aus Ungarn zum Vorbild.
Und hier werden auch das Zaudern der EU-Kommission und das weitgehende Schweigen der europäischen Konservativen verständlich. Der Rechtsstaatsmechanismus wurde 2014 ursprünglich für die Entwicklungen in Ungarn erdacht – aktiviert wurde er gegen die Fidesz-Regierung nie. Die ungarische Fidesz gehört zur »Parteienfamilie« der größten Fraktion im Europaparlament, der Europäischen Volkspartei (EVP), zu der auch die deutsche CDU/CSU gehört. Die polnische PiS hingegen gehört zur Fraktion der Europäischen Konservativen und Reformer, der (national)-konservative, EU-kritische und rechtspopulistische Parteien im Europaparlament angehören. Zu ihnen gehört auch die aus der AfD hervorgegangene Allianz für Fortschritt und Aufbruch (ALFA). Der noch für die AfD ins Europaparlament gewählte Hans-Olaf Henkel kritisierte die Entscheidung für die Einsetzung des Rechtsstaatsmechanismus: Die EU-Kommission messe mit zweierlei Maß, weil sie andere Vertragsverletzungen laufend toleriere. Ein Beispiel sei die »Griechenland-Rettung«, die nicht vereinbar mit dem sogenannten Maastricht-Vertrag sei.
Auf Griechenland stützt auch die LINKE im Europaparlament ihre Kritik – wenn auch mit einer anderen Stoßrichtung. Für den Abgeordneten Helmut Scholz (GUE/NGL) ist es zwar grundsätzlich richtig, in Polen genau hinzuschauen. Aber: »Mich irritiert allerdings sehr, dass all jene jetzt laut aufschreien, die viele Monate und eigentlich bis heute geschwiegen haben, als die EU-Kommission als Teil der Troika in Griechenland selbst das Recht und die Grundprinzipien der EU gebrochen hat, indem sie völlig losgelöst von der Grundrechtecharta in die Tarifautonomie eingegriffen hat oder sich Kompetenzen anmaßte, die ihr nicht zustehen«, sagt Scholz. Europa müsse sich an die eigene Nase fassen, denn die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien dürfe nicht selektiv eingefordert werden. »Sie gelten für jede Regierung innerhalb der Europäischen Union, sie sind verbindlich und nicht verhandelbar.«
Und auch die Kritik der polnischen Journalistin Aleksandra Rybinska, die sie am Donnerstag im Deutschlandfunk formulierte[1], ist nicht völlig von der Hand zu weisen. Auf die Frage, ob die neuen Gesetze nicht irgendeine europäische Antwort geradezu herausfordern, erwiderte sie: »Dann würde auch die Art und Weise, wie in Spanien Chefposten in den öffentlichen Medien besetzt werden, dieselbe Antwort verlangen. Die werden mit einfacher Mehrheit im Parlament gewählt. Das hat die Volkspartei von Mariano Rajoy so durchgesetzt.« Protestiert hätte in Europa niemand. Oder in Frankreich: Dort habe der französische Präsident das bestehende Verfahren einfach umgangen und »sich den Kandidaten für das öffentliche französische Fernsehen ausgesucht, der ihm gepasst hat, und es hat auch niemand protestiert«. Rybinska schließt feinsinnig: »Wir fühlen uns als Polen an den Pranger gestellt, obwohl das, was in Polen im Augenblick passiert mit den öffentlich-rechtlichen Medien, durchaus in die europäischen Standards passt.« Und solange diese Standards höchst selektiv und offenbar nicht für alle in Europa gelten, bleibt auch das Zaudern Europas Standard.
Links:
- http://www.deutschlandfunk.de/eu-verfahren-gegen-polen-wir-fuehlen-uns-an-den-pranger.694.de.html?dram:article_id=342396
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neues-deutschland.de / 14.01.2016 / Ausland / Seite 8
Szydlo: »Keine Politik auf Knien führen«
Polens Regierung weist Vorwürfe der EU zurück
Die EU-Kommission hat wegen der Gesetzesänderungen in Polen ein Verfahren zur Prüfung des Rechtsstaats in dem Mitgliedsland eingeleitet. Warschau bleibt gelassen.
Warschau. Der polnische Regierungssprecher Rafal Bochenek sieht in der Prüfung polnischer Gesetzesreformen durch die EU-Kommission keinen Grund zur Unruhe. »Das ist eine Standardprozedur, wir sollten da nichts dramatisieren«, sagte er am Mittwoch vor Journalisten in Warschau. EU-Kommissionschef Jean-Claude Juncker habe Regierungschefin Beata Szydlo in einem »langen, freundschaftlichen Telefongespräch« am Dienstagabend versichert, es handele sich um eine »Orientierung« der EU-Kommission. Der angekündigte Besuch von Vizekommissionschef Frans Timmermans sei der »beste Beweis, dass die Beziehungen Polens zur EU sehr gut sind«.
Regierungschefin Szydlo zeigte sich derweil kämpferisch. »Wir werden keine Politik auf Knien führen«, sagte sie am Mittwoch im polnischen Parlament in einer Debatte zur Außenpolitik und zu den Beziehungen zur EU. »Wir werden die Partnerschaft in der EU nicht als Privileg bezeichnen, sondern als unser Recht.« Polen werde von ausländischen Medien und Politikern zu Unrecht angeklagt. Es sei eine falsche Behauptung, »dass in Polen die Grundlagen eines demokratischen Polens gebrochen werden«. Szydlo rief die Opposition auf, »eine gemeinsame Front zu bilden«. Redner der Opposition wiesen Szydlos Mahnung zur Einheit zurück. »Es sind nicht Polen oder seine Bürger, die verleumdet werden«, sagte Rafal Trzaskowski von der Bürgerplattform. »Es sind unsere Partner, die beunruhigt sind über Ihr Handeln«, hielt er der rechtskonservativen Regierung entgegen.
Helmut Scholz, Europaabgeordneter der LINKEN, betonte, vor jedweder Sanktionierung müsse »der Dialog am runden Tisch zwischen der polnischen Regierung, der EU-Kommission und der Bevölkerung stehen«. Die Einhaltung demokratischer Grundprinzipien und die Verhinderung zukünftiger Einschränkungen bzw. Bedrohungen für die demokratischen Grundfreiheiten würden für jede Regierung innerhalb der EU gelten. »Sie sind verbindlich und nicht verhandelbar, denn letztlich basiert jeder Beitritt zur EU auf der kompletten Umsetzung des in der EU bestehenden gesetzlichen Besitzstandes«, so Scholz. nd/Agenturen
Quelle: http://www.neues-deutschland.de/artikel/997949.szydlo-keine-politik-auf-knien-fuehren.html