LINKE.im EP Redaktion: Du hast dich gemeinsam mit Georgios Katrougalos (GUE/NGL, Syriza) direkt nach den vorgezogenen Parlamentswahlen in der Ukraine über die dortige Situation informiert. Wie beurteilst Du die Wahlen und deren Ergebnis, das im Westen großteils als "Sieg pro-europäischer Parteien" gelobt wurde?
Helmut Scholz: Die Wahlen haben in der Tat eine Verschiebung hin zu politischen Parteien gebracht, die eine Zukunft des Landes in enger Anlehnung an die EU in Verbindung mit einer forcierten marktwirtschaftlichen Entwicklung sehen. Zugleich haben unsere vielen Gespräche mit VertreterInnen politischer Parteien, unabhängiger Gewerkschaften und mit zivilgesellschaftlichen Akteuren, darunter gerade vieler junger Menschen, gezeigt, dass die Wahlen eben keine nachhaltige Perspektive für das Land eröffnet haben.
Soziale Fragen, Umwelterhaltung und rigorose demokratische Neugestaltung der politischen Verhältnisse durch dauerhaftes Ermöglichen der Teilhabe an Entscheidungsprozessen standen nicht zur Wahl.
Sie wurden bei den Wahlen von keiner der angetretenen Parteien auch nur im Ansatz diskutiert, man beschränkte sich einfach auf Schlagworte. Die gegenwärtige, vor allem medial vermittelte Auseinandersetzung zwischen pro-europäischer und pro- russischer Perspektive des Landes geht an den eigentlichen Fragestelllungen vorbei. Diese scheinbare Alternative kaschiert nur das fortgesetzte Spiel der Umverteilung der Macht und des Zugriffs auf die riesigen Ressourcen seitens der ukrainischen und russischen, zunehmend aber auch der internationalen, also westlichen Oligarchenstrukturen in der Ukraine. Gerade deshalb gibt es ja diese sehr weiterverbreitete Skepsis gegenüber den neuen Parteien in der Verkhovna Rada, grundsätzlich etwas zu verändern zu wollen, denn auch sie werden nur als sogenannte Business-Projekte wahrgenommen. Und auch die Führungen der abgewählten Parteien waren in der Vergangenheit in diese Umverteilungskämpfe verwickelt, also in den Augen vieler Menschen Teil des Problems. Wir haben während unserer Reise immer wieder gehört: Wenn sich an den Lebensumständen nichts ändert, wird es den nächsten Maidan geben. Oder anders herum: Der Maidan des Jahres 2013/2014 war ein Ausdruck, dass die unten nicht mehr wollten, aber die oben noch konnten.
LINKE.im EP Redaktion: Der Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Ukraine, Pjotr Simonenko, kritisierte die Radikalisierung des gesellschaftlich-politischen Lebens vor den Wahlen. Gegen seine Partei läuft ein Verbotsverfahren. Wie stark ist der Druck, unter dem linke Kräfte in der Ukraine seit Ausbruch der Krise stehen?
Helmut Scholz: Die Radikalisierung der Verhältnisse haben 20 Jahre gnadenlose Ausplünderung des Landes und die immer groteskere Formen annehmende Umverteilung des Reichtums des Landes in die privaten Taschen der Oligarchen und der ihnen verbundenen herrschenden politischen Parteienhierarchien bewirkt. Und nachvollziehbar haben in dieser Situation sehr unterschiedliche politische und soziale Akteure versucht, dies für eigene Ziele auszunutzen und zu instrumentalisieren. Überlagert noch von dem Bestreben, die sozialen in nationale Antagonismen zu transformieren. Und die internationale Politik hat ein Übriges bewirkt: Die Ukraine wurde von der EU und von Russland vor ein Entweder-Oder gestellt. Gegen die Kommunistische Partei, die einzige linke Partei in der alten Verkhovna Rada, wurde in dieser Atmosphäre im August durch die Übergangsregierung ein Verbotsverfahren eingeleitet. Erst in dieser Woche (am 5. November 2014, Anm.d.Red.) fand eine weitere Verhandlungsrunde in Kiew statt. Meine Fraktion war immer mit Prozessbeobachtern vertreten, um deutlich zu machen: die Europäische Menschenrechtskonvention mit dem verbrieften Recht auf freie Meinungsäußerung und Recht auf Zusammenschluss muss prinzipiell auch in der Ukraine gelten.
LINKE.im EP Redaktion: Die deutsche Bundesregierung hat dem Assoziierungsabkommen der EU mit der Ukraine am Dienstag zugestimmt, nachdem das Europaparlament bereits am 16. September darüber abgestimmt hatte. Welche sozialen Folgen wird ein solches Abkommen für die Bürgerinnen und Bürger der Ukraine haben?
Helmut Scholz: Die ukrainische Wirtschaft war und ist eng mit der russischen Wirtschaft verflochten - davon zeugt schon die im Osten des Landes sich befindende Schwerindustrie. Und auch die strategischen Potentiale der jeweiligen militärisch-industriellen Komplexe sowohl der Ukraine als auch der Russischen Föderation sind hier bis in die jüngste Vergangenheit auf das engste verflochten und voneinander abhängig. Dies als auch die Abhängigkeit der Ukraine vom Gas aus der Russischen Föderation, aber auch die neuen Funde von Schiefergas im Osten wären beim Abschluss der Abkommen zu berücksichtigen gewesen, wenn nicht schnelle und dramatische Brüche und Umorientierungen auf dem EU-Binnenmarkt und das massive Eindringen hochproduktiver Industrien aus der EU in den ukrainischen Markt Schockwirkungen in einer ohnehin gebeutelten Volkswirtschaft auf Kosten der Menschen mit sich bringen sollen. Deshalb haben wir immer wieder auf die Notwendigkeit verwiesen, die Abkommen zwischen der Ukraine und der EU so zu gestalten, dass die Interessenlagen aller beteiligten Seiten souverän von den Staaten, aber mit Blick auf die Situation der Bevölkerungen und die traditionellen Beziehungen berücksichtigt und in Rechnung gestellt werden. Das ökonomische Kapitel des Abkommens, also das Freihandelsabkommen, soll nun erst in einem Jahr in Kraft treten. Die zu erwartende und politisch angestrebte Schocktherapie wird aus politischen Erwägungen ausgesetzt - zum jetzigen Zeitpunkt würde die ukrainische Gesellschaft die wirtschaftlichen Auswirkungen einer Marktöffnung für EU-Partner gar nicht verkraften. Ich bleibe dabei, dass wir von der neuen Regierung Klarheit und Transparenz darüber brauchen, wie die Wirtschaftsbeziehungen mit der Ukraine und Russland künftig aussehen sollen.