Die Linksfraktion im Europäischen Parlament GUE/NGL hat ein Gutachten der Forscher der Österreichischen Forschungsstiftung für internationale Entwicklung (Wien) in Auftrag gegeben und bei einer Anhörung der Fraktion zum TTIP heute der Öffentlichkeit vorgestellt.
Hierzu Helmut Scholz, handelspolitischer Sprecher der LINKEN: "Dank dem enormen Druck durch aufmerksame Bürgerinnen und Bürger hat die EU-Kommission ein Konsultationsverfahren zum TTIP eingeleitet. Das Gutachten soll einen Beitrag dazu leisten, dass die Resonanz auf das Konsultationsverfahren stark wird. Die Menschen in Europa wissen längst, dass Freihandelsabkommen und insbesondere das geplante US-Freihandelsabkommen einen massiven Einfluss auf ihren Alltag haben. Es geht um die Frage, wie wir künftig leben, handeln, arbeiten und konsumieren wollen."
Was sind die wirtschaftlichen Auswirkungen von TTIP? In der öffentlichen Debatte geben einige wenige ausgewählte Studien den Ton an, die überwiegend von der EU Kommission in Auftrag gegeben worden sind. Diese stellen die wirtschaftlichen Folgen für beide Seiten des Atlantiks positiv dar. Zentral sind die Studien von Ecorys (2009), CEPR (2013), CEPII (2013) und Bertelsmann (2013).
In dem von der LINKEN in Auftrag gegebenen Gutachten werden die Ergebnisse dieser Studien sowie deren Methodologie kritisch bewertet. Zudem sprechen wir einige Themata an, die von Folgeabschätzungen zum Handel häufig vernachlässigt werden, aus unserer Sicht jedoch wichtig sind. In aller Kürze: wir sehen nur begrenzte wirtschaftliche Gewinne, jedoch beträchtliche Abwärtsrisiken."
Die Ergebnisse des Gutachtens lassen sich in fünf Punkten zusammenfassen:
1. Die zu erwartenden Gewinne aus TTIP sind sehr gering. Alle vier Studien berichten kleine, aber positive Auswirkungen von TTIP auf das BSP, die Handelsströme und die Reallöhne in der EU. Das Wachstum für BSP und Reallöhne wird in den meisten Studien im Bereich 0,3 - 1,3 % beziffert. Die Arbeitslosigkeit in der EU bleibt entweder unverändert (Annahme), oder verringert sich um 0,42 Prozentpunkte, also etwa 1,3 Millionen, was jedoch unrealistisch erscheint. EU Exporte werden um 5 - 10 % ansteigen. All diese Effekte ergeben sich langfristig, sollen sich über eine Übergangsperiode von 10 - 20 Jahren einstellen.
2. Die zu erwartenden Gewinne hängen von der Reduktion nicht-tarifärer Maßnahmen (NTM) ab. Bei bereits sehr niedrigen durchschnittlichen Zolltarifen (unter 5 %) werden 80 % der TTIP Zugewinne aus der Abschaffung oder Angleichung von NTM ab, also Gesetzen, Regulierungen und Standards. Die Annahmen zur Machbarkeit von NTM-Reduzierungen sind in den Studien allerdings zu optimistisch. Auf Basis realistischerer Annahmen wäre die wirtschaftlichen Gewinne aus TTIP noch geringer.
3. Die sozialen Kosten von regulatorischen Veränderungen könnten bedeutend sein. NTM-Reduzierungen beinhalten sowohl kurzfristige Anpassungen als auch langfristige soziale Kosten. In den Studien wird dies völlig vernachlässigt. Vor allem wird die Abschaffung von NTM zu einem potentiellen Wohlfahrtsverlust für die Gesellschaft führen, und zwar bis zu einem Grad, dass die Eliminierung der NTM gesellschaftliche politische Ziele gefährdet (zum Beispiel Verbraucherschutz, Gesundheitsversorgung, Umweltschutz). Die in diesen Studien, insbesondere Ecorys, durchgeführte Analyse von NTM ignoriert diese Probleme völlig. Statt dessen wird angenommen, dass etwa 50 % oder 25 % aller verschiedenen in EU und USA existierenden NTM entweder abgeschafft oder auf einem gemeinsamen Standard angeglichen werden können. Das beinhaltet sensible Sektoren wie Nahrung und Getränke, Chemikalien, Medikamente, Kosmetik und Fahrzeuge. Um ihre optimistischen Gewinnprognosen zu erreichen, setzen die Studien in gerade diesen Bereichen starke Reduzierungen/Anpassungen voraus, in denen doch der Schutz gesellschaftlicher Politikziele vielleicht am wichtigsten ist. Wenn eine Schätzung ihrer Höhe auch beträchtlicher Unsicherheit unterliegt, können die durch Änderungen von Regulierungen durch TTIP ausgelösten sozialen Kosten doch erheblich sein und verlangen daher nach sorgfältiger Analyse von Fall zu Fall.
4. Makroökonomische Anpassungskosten sind nicht vernachlässigbar und sollten von Entscheidungsträgern der Politik in der EU behandelt werden.
- Die Kosten von Erwerbslosigkeit, inklusive Langzeiterwerbslosigkeit, könnten erheblich sein, insbesondere während der ersten zehn Jahre Übergangsperiode des TTIP. Ausgehend von der prognostizierten Verlagerung oder Verdrängung von Arbeitsplätzen in Höhe von 0,4 - 1,1 Millionen, schätzen wir (konservativ) die Folgekosten aus Arbeitslosenhilfe auf 5 - 14 Milliarden Euro, noch ohne die Kosten für Eingliederungsmaßnahmen und Schulungen. Hinzu kommen staatliche Einnahmeverluste aus Steuern und Sozialabgaben durch die Erwerbslosigkeit, die sich auf 4 - 10 Milliarden Euro summieren könnten.
- Einkommensverluste im Eigenmittel-Haushalt der EU durch entgangene Zölle könnten im Bereich von 2 % oder 2,6 Milliarden Euro pro Jahr liegen. Über die Übergangsperiode von 10 Jahren summiert sich das zu einem Einnahmeverlust des EU-Haushalts von mindestens 20 Milliarden Euro.
5. Weitere mögliche negative Auswirkungen von TTIP werden in der Studie herabgespielt. Dazu gehören:
- Die Exporte der am wenigsten entwickelten Länder (LDCs) in die EU werden wahrscheinlich zurückgehen, das reale BDP der LDCs würde um bis zu 3 % verringert. Obwohl nicht völlig schlüssig, rechtfertigen diese Ergebnisse doch eine detaillierte Untersuchung der Auswirkungen von TTIP auf Entwicklungsländer, wo sich die EU doch offiziell verpflichtet hat, die Armut in LDCs abzuschaffen.
- Der EU-interne Handel wird durch TTIP verringert werden. Einige Studien erwarten eine mäßige Verringerung, eine Studie rechnet jedoch mit einer Verringerung um 30 %. Dies verlangt nach weiterer Untersuchung.
Aus dem Englischen übersetzt von Bernd Schneider. Das Gutachten der Forscher der Österreichischen Forschungsstiftung für internationale Entwicklung (Wien) wurde von der Linksfraktion im Europäischen Parlament GUE/NGL in Auftrag gegeben und bei einer Anhörung der Fraktion zum TTIP am 8. April 2014 erstmals der Öffentlichkeit vorgestellt. Das Gutachten umfasst 69 Seiten mit detailliert dargestellten Forschungsergebnissen und wurde zunächst in englischer Sprache erfasst.