Helmut Scholz, ursprünglich als Teilnehmer der Poodiumsdiskussion zu einem atomwaffenfreien Europa eingeladen, weilte zum Zeitpunkt des Hearings zu Gesprächen in den USA. An die Veranstaltung in Brüssel sandte er das folgende Grußwort.
Washington, 09. April 2013
Sehr geehrte Teilnehmerinnen und Teilnehmer des Roundtable zu einem Europa ohne Atomwaffen,
Ich bedanke mich ausdrücklich für die Einladung zur Beteiligung an dieser wichtigen politischen Veranstaltung hier im Europäischen Parlament und muss mich zugleich als Mitinitiator entschuldigen, nicht persönlich auf diesem Hearing auftreten zu können. Leider bin ich durch meine Teilnahme an einer Delegationsreise des Internationalen Handelsausschusses persönlich kurzfristig verhindert, etwas zur Diskussion beisteuern zu können.
Auf diesem Wege möchte ich jedoch meine tiefe Überzeugung von der immensen Bedeutung und der heute immer drängenderen Notwendigkeit, die dem Thema der Begrenzung und Reduzierung der nuklearen Systeme sowie der Schaffung von kernwaffenfreien Zonen, insbesondere in Europa, zukommt, unterstreichen. Bekanntlich gehörte der "alte Kontinent" in den Jahrzehnten des Kalten Krieges zu jenen Weltregionen mit der höchsten Dichte nicht nur an konventionellen Rüstungen, sondern auch an nuklearen Gefechtsfeldwaffen und Mittelstreckensystemen.
Angesichts der gegenwärtigen Zuspitzung des Konflikts auf der koreanischen Halbinsel und der gescheiterten Gespräche zum iranischen Atomprogramm in der kasachischen Hauptstadt könnte das Roundtable kaum aktueller sein. Wenngleich Experten die atomaren Drohungen aus Pjöngjang für nicht in die Tat umsetzbar halten, zeigen die Einbeziehung der Nuklearmächte USA und letztlich auch Russlands die dramatische Verschlechterung des politischen Klimas in der Region und die Gefahr jeder Zeit möglicher aufbrechender militärischer Zusammenstöße, welche Gefahren noch immer allein von der Existenz von Nuklearwaffen und der Drohung mit ihrer Anwendung ausgehen.
Wenn es um nukleare Abrüstung, um die Abkehr von veralteten Militärdoktrinen und -strategien geht, dann ist meines Erachtens klar: Allen voran haben die beiden größten Atommächte, die USA und die Russische Föderation, die Verantwortung, ihre wiederholt verbal bekräftigte Bereitschaft zur atomaren Abrüstung endlich in die Tat umzusetzen. Atomare Waffenlager und nukleare Erstschlagstrategien als untaugliche Mittel des 20. Jahrhunderts, Frieden in der Welt dauerhaft zu gewährleisten, sind erst recht nicht geeignet, die Probleme des 21. Jahrhunderts zu meistern. Im Gegenteil: Sie sind und bleiben eine politische, militärische und vor allem ökonomische und soziale Bedrohung und Belastung für die Bürgerinnen und Bürger in diesen beiden Staaten, wie überall. Aber heute sind längst nicht nur die »Großen« gefordert, atomare Doktrinen ad acta zu legen und Kernwaffen zu beseitigen. Die Zahl aller verfügbaren atomaren Sprengköpfe betrug Anfang des Jahres 2012 19.000. Der schwelende Konflikt zwischen Pakistan und Indien, die Krise um Iran und insgesamt im Mittleren und Nahen Osten könnten angesichts der dortigen nuklearen Arsenale ganze Regionen in tote Landschaften verwandeln. Gerade Nahost zeigt, dass Kernwaffen einem Staat wie Israel keine Sicherheit bringen können, sondern regionale Spannungen anheizen. Weder schützen Atomwaffen vor Terroranschlägen, noch können sie politische Konfliktlösungen ersetzen. Und mit der Entwicklung neuartiger, kleiner nuklearer Waffensysteme, eskalieren diese Probleme immer mehr.
Erst vor wenigen Wochen hat in Oslo die Konferenz über humanitäre Folgen eines Atomkriegs die langfristigen Folgen möglicher Kernwaffeneinsätze bestätigt. So belegen Studien für den Nahen Osten, dass neben den unmittelbaren Opfern weitere Millionen Menschen durch die Zerstörung der Infrastruktur, die Schädigung der Umwelt und der Ozonschicht sowie durch Ernteausfälle betroffen wären. Es gibt sicher keine Zweifel: Diese Ergebnisse treffen auch für andere Weltregionen zu.
Zugleich gibt es das ermutigende, aber längst noch nicht politisch und militärisch dauerhaft, weil völkerrechtlich verbindlich gesicherte Beispiel, dass kernwaffenfreie Zonen durchaus in vielen Teilen der Welt für größere Sicherheit sorgen können, wie beispielsweise in Lateinamerika, im Südpazifik oder Afrika.
Auch in Europa sind eigentlich alle Chancen gegeben eine kernwaffenfreie Zone zu schaffen, ist doch die »Systemkonfrontation« seit Jahrzehnten überwunden. Europa wird auch nicht politisch und militärisch bedroht. Und verbal wird seitens der Politik nukleare Abrüstung allgemein als potenzielle Möglichkeit durchaus auch betont. Auch von den 27 EU Mitgliedsstaaten, von denen mit Frankreich und Großbritannien zwei für die Bestimmung und Ausformung der GASP der EU eine wichtige Rolle spielende Länder selbst Atomwaffen produzieren und besitzen, und in anderen - auch in Deutschland - nach wie vor Atomwaffenarsenale existieren. Somit könnte die Europäische Union sich als ein konstruktiver Pfeiler für das friedliche Zusammenleben der Völker anbieten. Aber gerade in Europa sind die Widerstände gegen einen Kontinent ohne Atomsysteme groß und die Hürden auf dem Weg dahin hoch. Es fehlen der politische Wille und konkrete Taten zur realen, verbindlichen und umfassenden Kernwaffenabrüstung. Statt dessen setzen die EU und ihre 27, bald 28 Mitgliedstaaten in ihrer Außen- und Sicherheitspolitik noch immer oder besser, gesagt, schon wieder vorrangig auf die militärische Komponente. Und die beinhaltet noch immer auch nukleare Abschreckung und damit die Nichtbereitschaft, auf nukleare Waffensysteme zu verzichten. Damit dreht sich die weltweite Spirale der nuklearen Aufrüstung weiter. Das Europäische Parlament sollte deutlich sagen - auch in Richtung der Hohen Repräsentantin und Vizepräsidentin Frau Ashton, die ja in der britischen und europäischen CND / END Bewegung selbst einmal sich für nukleare Abrüstung engagiert hat: Es ist höchste Zeit sich im Interesse des Weltfriedens und des gemeinsamen, partnerschaftlichen Einbringens - inklusive gerade der EU - zur Bewältigung der globalen Herausforderungen wie Bekämpfung von Hunger, Überwindung von Armut, Klimawandel und den wachsenden sozialen Polarisierungen in allen Gesellschaften und der dadurch verursachten Destabilisierung der gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse in vielen Regionen und Teilen der Erde sich militär- und sicherheitspolitisch von den alten Konfrontationsmustern und dem Festhalten an militärischer Stärke als vermeintliches politisches » Allheilmittel« endgültig zu verabschieden. Der Kalte Krieg und die Möglichkeit wie Erwägung eines Denken in Kolonialen wie neokolonialen Termini, einschließlich entsprechender Absicherungen wirtschaftlicher Positionen in der Welt sollten auch in der EU-Politik endgültig der Vergangenheit angehören. Dazu gehört nicht zuletzt, dass die letzten verbliebenen US-Kernwaffen aus Europa abgezogen und keinesfalls, wie im vergangenen Jahr bekannt wurde, sogar noch modernisiert werden.
Gefordert sind heute alle atomwaffenbesitzenden Staaten, konkrete Schritte zu gehen. Die Vereinigten Staaten und Russland müssen dazu Vorreiter und beispielgebend sein. Gefordert sind die kernwaffenfreien Staaten, den Atommächten deren Verantwortung für Weltfrieden und internationale Sicherheit zu verdeutlichen und Schritte zur Abrüstung einzufordern. Gefordert ist die internationale Öffentlichkeit, um in ihrem Streben nach einer kernwaffenfreien Welt und als wichtigen Etappen dahin nach kernwaffenfreien Zonen nicht nachzulassen. Nicht um ein Gegeneinander geht es dabei, sondern um vereinte Anstrengungen, die die verschiedenen Schritte miteinander verbindet.
Ganz in diesem Sinne bin ich mir sicher, dass das heutige Hearing in Brüssel einen wichtigen Beitrag leisten kann.
PIhr