Vom 1. Juli bis 31. Dezember 2020 hatte Deutschland den Vorsitz im Rat der Europäischen Union in einer nicht einfachen Zeit inne: Die Welt, die EU und auch die deutsche Bundesregierung mussten mit der Corona-Pandemie eine der größten Herausforderungen seit langem bewältigen. Viele der offenen oder verschleppten Probleme in der EU wurden durch die Pandemie sichtbar und verstärkt. Die Kürzungsdiktate der EU-Kommission, die vielen Staaten nicht zuletzt auf Druck Deutschlands spätestens seit der Finanzkrisenbewältigung aufgebürdet wurden, haben die europäischen Gesundheits- und Sozialsysteme an den Rand des Zusammenbruchs geführt. Zugleich erscheinen die Herausforderungen Klimawandel, Schutz der Artenvielfalt und Ernährungssicherheit plötzlich als zweitrangig, was jedoch nicht gegeneinander aufgewogen werden darf.
Sechs Monate hatte die Bundesregierung, um Maßnahmen für eine solidarische Neuausrichtung der EU mitten in der Corona-Krise auf den Weg zu bringen. Diese blieben mangels langfristiger Strategien und klarer Zielsetzungen hinter den Erwartungen zurück.
Neben dem EU-Haushalt 2021-27 wurde mit dem Wiederaufbaufonds erstmalig eine Verpflichtung für gemeinsame Anleihen verankert – ein Schritt in Richtung der seit langem auch von DIE LINKE. geforderten gemeinschaftlichen, solidarischen Finanzierung der vor der EU stehenden Aufgaben. Und es ist dem EU-Parlament zu verdanken, dass neue Eigenmittel für den EU-Haushalt geschaffen werden. Digitalsteuer, CO2-Grenzausgleichsmittel, Finanztransaktionssteuer... Aber vieles bleibt vage, Mitgliedstaaten sperren sich gegen ein gemeinschaftliches Agieren und der Mehrjährige Finanzrahmen bleibt in seiner Ausrichtung und Untersetzung trotz steigender Herausforderungen weit hinter konkreten Bedarfen zurück. Die Ausgaben für Infrastruktur, Digitalisierung, Bildung, Klimaschutz, Artenvielfalt und Gesundheitsvorsorge werden bei weitem nicht reichen. Gemeinschaftliches Agieren und nicht EU-binnenmarktlicher Konkurrenzkampf um Fördertöpfe oder Lohn- und Preisdumping ist erforderlich, um soziale und wirtschaftliche Ungleichheiten abzubauen.
Die Krise zeigt: Die EU-Mitgliedstaaten müssen gemeinsam handeln und den Blick weit über die Grenzen der EU richten. Das Virus, der Klimawandel, unsere Produktions- und Konsumtionsmuster, unsere Außenhandelspolitik zeigen, dass die EU ein solidarisches und faires Verhältnis mit den anderen Kontinenten gestalten muss. Auch deshalb sind im Haushalt vorgesehene Milliarden Summen im EU-"Verteidigungsfonds“ verschwendet, wenn sie nicht für einen Beitrag der EU zur Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der UNO eingesetzt werden. Letzteres wäre verantwortungsbewusste Neuausrichtung einer „Strategischen Autonomie“ der EU.
Portugal hat am 1. Januar die Ratspräsidentschaft übernommen. Aufgaben und Herausforderungen bleiben ähnlich – die praktische Umsetzung der in buchstäblich letzter Stunde verabschiedeten Ziele des letzten Jahres muss nun erfolgen: die Prüfung des Post-Brexit Abkommens oder das Investitionsabkommen mit China. Zugleich will Portugal sozialpolitische Belange in den Fokus rücken und eine verbindliche europäische Mindestlohnregelung auf den Weg bringen, um endlich armutsfesten Grundprämissen eines Sozialen Europas Konturen zu geben. Auch das Nachbarschaftsverhältnis zum Afrikanischen Kontinent steht im Fokus. Weder Klimakrise noch Corona sind besiegt und auch nicht die wachsenden sozialen und wirtschaftlichen Ungleichheiten. Die in die Krise geratenen Gesundheitssysteme sind neu aufzubauen.
Ich erwarte von der portugiesischen Ratspräsidentschaft den Startschuss für den Beginn der Konferenz zur Zukunft der EU, um die Weichen für die EU von morgen zu stellen. Diese Debatte muss umfassend, inklusiv und zukunftsoffen sein. Packen wir es an. Nicht gegeneinander, sondern miteinander.
Sieben Forderungen an die deutsche Ratspräsidentschaft:
https://www.dielinke-europa.eu/de/article/12741.unsere-sieben-forderungen-an-die-ratspräsidentschaft-der-bundesregierung.html