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Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 78, 11. November 2022
Liebe Leser*innen,
bei den Midterm-Wahlen in den USA konnten die Republikaner ihre angekündigte „red wave“ nicht umsetzen. Eine Entwarnung ist das aber nicht. Der Ausgang der Zwischenwahlen zum US-Repräsentantenhaus und zum Senat zeugt von den tiefen Gräben in der US-amerikanischen Gesellschaft, die sich in den vier Jahren Trump-Präsidentschaft dramatisch weiter vertieft haben. Der unklare Wahlausgang belegt zugleich, dass es den Demokraten trotz durchaus anerkennenswerter neuer Gesetzesvorhaben bislang nicht gelungen ist, überzeugende Angebote gerade für die sozial schlechter gestellten Schichten vorzulegen und in reale Politik umzusetzen. Das war auch mein Eindruck, der sich bei meiner kürzlichen Reise nach New York gefestigt hat. Zwar haben sich in einer von Hass und populistischer Verleumdung gekennzeichneten Situation – unmittelbar nach Trumps Abwahl – progressive, demokratische, vor allem auch unterschiedliche linke Kräfte und Bürgerbewegungen wie Black Lives Matter gegen Klimakrise, soziale Spaltung, Rassismus oder gegen die Verschärfung frauenfeindlicher Abtreibungsgesetzgebung eingesetzt. Die Demokraten verpassten jedoch, den Enthusiasmus, den zum Beispiel die Welle an gewerkschaftlicher Organisierung bei Amazon und Starbucks hervorgerufen hat, in deutliche Mehrheiten gegen die Republikaner umzusetzen. Und die jungen Wähler*innen, die vor zwei Jahren immerhin 40% der Aktiven und begeisterten Wählerschaft des Demokraten Joe Biden stellten, haben diesmal, nur 2 Jahre später, wohl nur noch 10-15 % der demokratischen Wählerschaft ausgemacht. Die Polarisierung der Gesellschaft droht sich zu verfestigen. Der Wahlsieg des Republikaners DeSantis spricht Bände. Und verdeutlicht die Dimension der gegenwärtigen und künftigen Aufgabenstellungen bei Verteidigung und Erneuerung der demokratischen Grundlagen des US-Gesellschaft. Das Anhalten einer breiten Akzeptanz der Geisteshaltung von Trumpisten und religiösen Hardlinern verlangt förmlich entschiedenes Gegensteuern aller demokratischen Kräfte aus der Gesellschaft, aus Politik und Wirtschaft. Denn: Es bleiben (nur) ziemlich genau zwei Jahre Zeit bis zu den nächsten Präsidentschaftswahlen, um die gesellschaftliche Mobilisierung für Bürger*innenrechte voranzutreiben und einen progressiven, demokratischen Aufbruch in der amerikanischen Gesellschaft zu ermöglichen. Dieser muss gelingen um 2024 einen Wiedereinzug äußerst rechter Kräfte im Weißen Haus zu verhindern und eine bessere Ausgangsbasis – unabhängig davon, ob der Sieger Donald Trump heißt oder nur in dessen politischer Tradition steht. Apropos Wahlen: Früher noch als die US-Präsidentschaftswahlen finden in der EU die nächsten Wahlen zum Europäischen Parlament statt, konkret im Frühjahr 2024. Wir als LINKE-Delegation im Parlament haben einige wichtige Punkte festgeklopft. In einer gemeinsamen Wortmeldung mit den Fraktionsvorsitzenden der Linkspartei aus Ländern und Bund sowie den LINKE-Europastaatssekretären aus Berlin, Thüringen und Bremen, mit denen wir kürzlich in Brüssel beraten haben, haben wir Themen aufgelistet, für die sich die Linkspartei, nicht nur im Europawahlkampf engagieren muss. Auf allen politischen Entscheidungsebenen, von der Kommune bis zur EU-Institutionen-Ebene. Weil wir diese „Mehrebenen-Entscheidungsstruktur“, die die EU nun einmal ist aber die kaum so wahrgenommen wird, für jede*n Bürger*in transparent, anfassbar, verständlich und damit einladend zur demokratischen Mitgestaltung machen müssen. Wir schlagen unter anderem einen „Europäischen Klima-Energiefonds“ vor. Wir kritisieren das Fehlen von Übergewinnsteuern, Mieten- und Energiepreis-Deckelung in Deutschland, während andere EU-Länder solche Schritte schon gegangen sind. Für notwendig halten wir die Vergesellschaftung der Energienetze und die Schaffung einer EU-Energie- und Umweltunion. Der Kampf gegen Ausgrenzung und Rechtsextremismus muss nach unserer Position von regionaler bis europäischer Ebene koordiniert, die Asylpolitik menschenwürdig und als solidarische Gemeinschaftsaufgabe grundlegend neugestaltet werden. Wir wollen die EU entsprechend der Forderungen der Zukunftskonferenz – ich habe Sie regelmäßig darüber informiert – endlich wirklich in Richtung einer Mitentscheidung der Menschen in der EU über deren Politik und Praxis neu aufstellen. Demokratische Gesellschaften im 21. Jahrhundert erfordern das Zusammenbringen von repräsentativer und partizipativer Demokratie - also enge Verzahnung von Parlamenten und Zivilgesellschaft. Und deshalb gehört eigentlich weiterhin noch viel stärkerer öffentlicher Druck auf die Tagesordnung um zu ermöglichen, dass in einem neuen EU-Konvent, vom Parlament entsprechend Art. 48 der EU-Verträge (Lissabon-Vertragsfassung) gefordert, beraten wird wie Politik und Strukturen der EU verändert werden müssen, um die vielen neuen Herausforderungen an die EU in ihrer gewaltigen Bandbreite zu meistern und den Erwartungen der Bürger*innen besser gerecht zu werden. Letztlich geht es wieder um die Frage: welche EU wollen wir - nur einen Binnenmarkt oder bewusste Entscheidung zur Vertiefung der Integration? Gerade im Kampf gegen den Klimawandel und im konsequenten Zurückdrängen fossiler Energieträger ist es wichtig, globales Zusammenwirken aller Länder zu ermöglichen - d.h. auch die Belange des Globalen Südens solidarisch und konsequent in der Ausformung eigener Interessen aufzunehmen. Das erfordert insbesondere, China und die USA mit ins Boot zu holen. Sicherlich ist nachvollziehbar, dass gerade diese jeweiligen Verhältnisse zu Peking und Washington keine einfachen und durchaus komplex und kompliziert sind, nach dem letzten Parteitag der KP Chinas sowie den Midterm-Wahlen in den Vereinigten Staaten und auch nach der jüngsten Reise von Bundeskanzler Scholz nebst Wirtschaftsdelegation in die Volksrepublik überaus deutlich allemal, einschließlich ihrer medialen und politischen Kommentierung. In einer multipolaren Welt sind die internationalen Verflechtungen nicht einseitig nur aus der eigenen Interessenlage oder Weltsicht heraus bestimmbar, sondern erfordern viel stärker als oft praktiziert die Bereitschaft, den Partner, Wettbewerber oder auch systemischen Rivalen ernst zu nehmen, also auch im Verhältnis der EU und ihrer Mitgliedstaaten zu China kühlen Kopf und Dialogbereitschaft zu bewahren. Nicht zuletzt um Entspannung und Kooperation anstelle von Konfrontation und Sanktionen zum Maßstab politischen Handelns zu machen. Aus ökologischer und wirtschaftlicher Sicht, aber ebenso, um die wirtschaftlichen Konsequenzen aus unseren absolut notwendigen Reaktionen auf die Aggression der Regierung Putin gegenüber der Ukraine zu meistern. Um diese und ähnliche Fragen wird es sicherlich so auch in Gesprächen bei meinem bevorstehenden Aufenthalt in Indien in der kommenden Woche gehen. Das riesige Land schickt sich nicht erst seit gestern an, in die Riege der großen globalen Player aufzusteigen. Mehr zu der Reise lesen Sie dann in meinem kommenden Newsletter als kleine Rückschau. Ihr Helmut Scholz |
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