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Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 65, 01. Juli 2022
Liebe Leser*innen,
ich vermute, Sie haben den Bundesparteitag der LINKEN sicherlich irgendwie wahrgenommen - über die Ergebnisse nachgedacht und mit Freund*innen oder der Familie diskutiert. In unserer Delegation DIE LINKE. im EP im Kleinen wir auch, aber als Delegation insgesamt kommen wir auch erst nächste Woche dazu. Ich möchte an dieser Stelle nicht wiederholen, was ich in den Newslettern "vor Erfurt" geschrieben habe. Aber ich bin froh, dass wir als Partei eine klare Position zu Putins Krieg bezogen haben. Und zugleich deutlich machten, dass wir die nun in Deutschland mit dem 100-Milliarden-Programm und auch in Nato wie EU neu angefachte Hochrüstung kategorisch ablehnen. Mit mehr Waffen ist nicht mehr Sicherheit zu erreichen. Und das Geld wäre in vielen Bereichen - ob nun Soziales, Gesundheit oder Umstellung auf erneuerbare Energien - besser angelegt. Natürlich wissen Sie das alles, aber diesen konsequenten Kurs gegen Krieg, für Abrüstung und Entspannung bleibt Markenkern und Alleinstellungsmerkmal der LINKEN als Friedenspartei. Aber die Aufgabe bleibt, konkret herauszuarbeiten wie die von uns eingeforderte, alternative politisch-diplomatische Lösung als Gesamtanstrengung aussehen kann und soll - auch weil der Präsident im Kreml so völlig unwillig auftritt, auch nur verhandlungsbereit zu sein. Und umso mutiger ist das Auftreten der jungen russischen linken Aktivistin von “что делать“ (Was tun?) gegen diesen imperialistischen Krieg auf dem Parteitag zu bewerten. Aber besonders froh und auch stolz sind wir über die Wahl unseres Ko-Fraktionsvorsitzenden Martin Schirdewan als neuen nun auch Ko-Vorsitzenden unserer Partei. Nicht nur wegen seines politischen Hintergrunds, sondern auch seiner Erfahrungen, sehr unterschiedliche linke Kräfte zusammenzuhalten. Sie ahnen es, ich spiele auf die Linksfraktion im Europäischen Parlament an, in der zu verschiedenen Themen teils recht unterschiedliche Meinungen existieren. Und sicherlich werden wir kollegial und solidarisch nun beraten, wie wir als Delegation die vor ihm und uns allen erwachsenden Aufgaben unterstützen können. Denn Martin ist zweifellos für die Fraktion wichtig, wird nun aber in Zukunft sehr viel Arbeit "zu Hause" haben müssen. Dass nun die europäische Dimension linker Politik vielleicht stärker einfließen wird als in der Vergangenheit, halte ich wiederum für einen großen Schritt nach vorn und auch für eine große Chance, linke Politik real in europäische und internationale Verantwortung strategisch einzubinden. Zumal 2024 die Europawahlen die nächste große Bewährungsprobe auch für unsere Partei sind, Politik mit und für die Menschen zu gestalten. Apropos Neuanfang: Am heutigen Freitag hat Tschechien die EU-Ratspräsident von Frankreich übernommen. Die Prioritätenliste Prags für die kommenden sechs Monate beinhaltet solche Punkte wie die Versorgung von Geflüchteten aus der Ukraine und den Wiederaufbau des Landes, die Energiesicherheit und die "strategische Widerstandsfähigkeit der Wirtschaft in der EU". Merken Sie es? Da fehlt etwas! Und zwar die weitere Verfolgung des Prozesses der großen EU-Zukunftskonferenz, deren Ergebnisse im Mai an die drei europäischen Institutionen Europaparlament, EU-Kommission und Rat übergeben wurden. Bislang kein Wort der tschechischen Präsidentschaft zur einer vom Europäischen Parlament mit großer Mehrheit geforderten Einberufung eines Konvents, bei dem auch die Neugestaltung der Europäischen Verträge auf der Tagesordnung stehen müsste. Leider hat die französische EU-Ratspräsidentschaft es entgegen den Versicherungen am 09. Mai gegenüber den Bürger*innen beim Abschluss der EU-Zukunftskonferenz „versäumt“ oder vergessen, die Weichen in diese Richtung zu stellen und dem Gegenwind aus Skandinavien und vielen Mittel- und osteuropäischen Mitgliedstaaten die Stirn zu bieten. Die Tagesordnung und der Verlauf des Juni-Gipfels des Europäischen Rats vor einer Woche haben die vertragliche Rechtsetzung einer notwendigen Behandlung der Forderung des Europäischen Parlaments schlichtweg ignoriert. Auch die Bundesregierung, und insbesondere Außenministerin Baerbock, hatten vorab bereits erkennen lassen, dass sie keinen Konvent wolle; und auch das klang vor einem Monat noch ganz anders aus dem Mund ihrer Europa-Staatsekretärin in Strasbourg. Und steht übrigens in Widerspruch zum Koalitionsvertrag, der ausdrücklich einen Konvent benennt, wenn ich als Linker daran erinnern darf. Ich kann Ihnen an dieser Stelle aber noch einmal versprechen: Wir als Europaparlamentarier*innen und auch ich persönlich bleiben dran am Thema und werden uns für all die vielen konkreten und wichtigen Vorschläge der Bürger*innen einsetzen, die eine Vertragsveränderung erfordern, und jene, die auch auf Grundlage heutiger Vertragslage umzusetzen sind und dass diese in Gänze nicht in der Schreibtischschublade verschwinden. Übrigens hat Prag auch die EU-Strategie im indo-pazifischen Raum zu einem seiner Schwerpunkte erklärt. Ob das Herangehen der tschechischen Ratspräsidentschaft konstruktiv und der immer weiter wachsenden Bedeutung dieser Region angemessen ist, muss sich zeigen. Ich bin ehrlich: Ich bin in dieser Hinsicht skeptisch. Vielleicht wissen wir bereits in der kommenden Woche mehr. Denn dann steht das Thema, wie Sie unten lesen können, auch auf der Agenda der Plenarsitzung des Europaparlaments in Strasbourg. Ihr Helmut Scholz |
4. Juli: Plenardebatten zur Handels- und Investitionsstrategie der EU für den indo-pazifischen Raum und zur Handels- und Investitionsstrategie der EU gegenüber Indien
Diese Berichte wurden von den Europaabgeordneten Jan Zahradil aus Tschechien und Geert Bourgeois aus Belgien, beide von der rechts-konservativen Fraktion ECR, erstellt. Beide Initiativ-Berichte versuchen den vor 3 Jahren von Kommissionspräsidentin von der Leyen entworfenen geopolitischen Strategieansatz einer „Open Strategic Autonomy“ (Offene Strategische Autonomie) der EU in die handelspolitische Interessenwahrnehmung der EU zu übersetzen. Und bleiben aber in der gegenwärtigen Rahmenkonstellation im traditionellen Korsett hängen. Problematisch ist aus meiner Sicht, dass dies erstens in beiden Texten v. a. über die Konkurrenz zu China zu definieren versucht und damit zweitens nicht in kooperativen Ansätzen eines multilateralen, Regel basierten Systems eingeordnet, sondern im Schmieden von Allianzen gegen die wirtschaftliche und politische Position Chinas vorgenommen wird. Unzureichend sind vor allem auch die realen sozialen und wirtschaftlichen Situationen und Widersprüche in den Ländern der Region einerseits und die ökologischen Herausforderungen andererseits als Aufgabenstellungen für eine verantwortungsbewusste Neugestaltung der Handels- und Investitionskooperation mit der EU herausgearbeitet.
Der Bericht zum handelspolitischen Verhältnis EU-Indien von Geert Bourgeois, früherer Vorsitzender der belgischen NVA, der sich in politischer Hinsicht wahrscheinlich gut mit Indiens Präsident Mohdi und dessen hindu-nationalistischer Partei verstehen würde, unterstützt kritiklos das Vorhaben von EU und Indien, die Verhandlungen über ein Freihandelsabkommen in der gegenwärtigen Phase einer geopolitischen Neuausrichtung internationaler Handelspolitik nach vielen Jahren seiner Aussetzung wiederaufzunehmen. Dabei werden die Gründe für das Aussetzen nicht analysiert, die möglichen Auswirkungen der Handelskooperation auf Gesellschaft und Wirtschaft in beiden Märkten nicht explizit abgebildet. Die Frage, wo und wie die Interessen einer forcierten Handels- und Investitionskooperation im Interesse der Menschen verankert werden sollen, wird sehr traditionell beantwortet: Die Öffnung des indischen Marktes für europäische Autos, landwirtschaftliche Produkte, Medizintechnik, Medikamente, sowie Zugang zu Aufträgen der öffentlichen Beschaffung. Im Sinne der Freihandels-Logik unter Umgehen des Adverbs “Fair” sollen Handelshindernisse wie die indischen Bestimmungen zur Qualitätskontrolle und bestimmte Zertifizierungsvorschriften beseitigt, sowie nationale Vorgaben zur sogenannten „Lokalisierung“ von Gütern abgebaut werden. Der Bericht geht wirklich ausgesprochen ins Detail, was Indien alles an Bestimmungen abschaffen soll, um europäischen Unternehmen den Marktzugang zu ermöglichen und fordert auch die Beendigung von Programmen wie „Make in India“ und „Self-Reliant India“ (Atmanirbhar Bharat), wodurch das Land die bitter benötigte wirtschaftliche Eigenentwicklung fördern will. Besondere Betonung legt der Bericht auch auf die Stärkung und Verlängerung des Patentschutzes für europäische Medikamente in Indien. Man muss wissen, dass für große Teile der Weltbevölkerung Medikamente nur deshalb erschwinglich sind, weil sie in Indien als günstige Generika hergestellt werden. Ich hoffe, dass auch durch diesen Bericht der indischen Bevölkerung deutlich werden könnte, worum es der EU wirtschaftlich insbesondere geht. Wo aber andererseits durch das vorgesehene sogenannte Nachhaltigkeitskapitel auch neue Möglichkeiten für anzustrebende demokratische Veränderungen in der gesellschaftlichen und wirtschaftspolitischen Struktur entstehen und wahrgenommen werden sollten. Es ist mit massiven Protestbewegungen gegen dieses Abkommen zu rechnen, denn die indische Zivilbevölkerung ist sehr gut organisiert und abwehrbereit. Doch auch ohne Handelsabkommen wird sich etwa tun, denn EU Kommission und die Regierung Mohdi vereinbarten die Gründung eines Handels- und Technologierates (Trade & Technology Council - TTC) nach dem Vorbild des TTC, den die USA mit der EU ins Leben gerufen haben. Dabei geht es um Vereinbarungen zur regulatorischen Kooperation unabhängig von der Existenz eines umfassenden Abkommens. Meine Fraktion wird diesen Bericht ablehnen. |
05. Juli: Fragen an die Kommission – Mehr Ehrgeiz der EU für die Biodiversität im Vorfeld der COP 15
Seit einigen Plenartagungen werden die ersten der noch unter Parlamentspräsident David Sassoli von sogenannten Fokusgruppen erarbeiteten Vorschläge praktisch umgesetzt: für eine lebendigere Diskussion und Plenarsitzung gibt es jetzt die Möglichkeit, spontane Fragen an die EU-Kommission zu richten, die sie direkt beantworten muss. Lediglich das Überthema wird durch die Konferenz der Präsident*innen (Präsident*in des EU-Parlaments und die Vorsitzenden der Fraktionen) vorgegeben. In der nächsten Woche geht es um Erhalt und Schutz der Artenvielfalt (Biodiversität). Mit gutem Grund, tagt doch im Dezember 2022 endlich die COP 15 (Conference of the Parties, bzw. Vertragstaatenkonferenz) zu diesem Thema, die ursprünglich in Kunming (China) zusammentreten sollte, aber wegen der chinesischen Zero Covid-Strategie bereits zweimal verschoben werden musste. Am Mittwoch also eine gute und wichtige Möglichkeit, der EU-Kommission entsprechende Fragen zu stellen. Denn es geht um die zweite, und vielleicht noch gravierendere, umweltpolitische Aufgabenstellung neben dem Klimawandel infolge der Erderwärmung, der sich die Menschheit in Gänze stellen muss. Zahlreiche Länder dieser Welt haben schon lange mit den Auswirkungen des Klimawandels zu kämpfen, nun nehmen diese auch in Europa weiter zu. Die zunehmende Erderwärmung ist für uns Menschen immer deutlicher spür- und sichtbar und bedingt im Zusammenhang mit unserer Produktions- und Konsumtionsweise, unserer Agrarpolitik und Nahrungsmittelerzeugung, Flächenversiegelung, Mobilitätspraxis, um nur einige Themen zu nennen, einen zunehmenden irreversiblen Verlust der biologischen Vielfalt. Um dem entgegen zu wirken, braucht es sowohl sehr konkrete und verbindliche umweltpolitische Maßnahmen (wie unter anderem mehr Schutzgebiete und großflächige Renaturierung) als auch tiefgreifende Umstrukturierungen und eine nicht am Wachstum des BIP ausgerichtete Transformation unseres Wirtschaftssystems. Biodiversität als horizontales Kriterium in den verschiedensten Politikfeldern verbindlich zu verankern sollte Kernanliegen der EU-Politik sein und Querschnittsaufgabe werden. Dem hat sich die COP mit der UN-Konvention zur Biologischen Vielfalt und dem vereinbarten Stopp des Verlusts der Biodiversität bis 2030 verpflichtet und die Frage bleibt akut, welche konkreten Verpflichtungen rechtlich bindend durch die EU-Kommission vorgelegt werden. Die Biodiversitätsstrategie der Kommission hat hier sicherlich einen Grundstein gelegt, doch Papier ist geduldig. Genauso wie die SDGs ist Biodiversität zum Gradmesser des politischen Handelns in allen Politikfeldern zu machen. Das ist Chef*innensache, nicht mehr und nicht weniger. Und zugleich Übernahme von entsprechender Verantwortung seitens aller EU-Institutionen, Akteur*innen und jeder und jedes Einzelnen. Ein Mut machendes Beispiel ist die im Bereich der Landwirtschaft gestartete Europäische Bürgerinitiative “zum Schutz der Bienen”, die die EU-Kommission auffordert, landwirtschaftliche Produktion umweltfreundlich, frei von synthetischen Pestiziden und im Einklang mit der biologischen Vielfalt und den Landwirt*innen zu realisieren (die gesammelten 1,2 Millionen Unterschriften - 1 Million sind notwendig, um eine Bürgerinitiative zuzulassen - werden derzeit geprüft). https://www.savebeesandfarmers.eu/deu/ Interessant, dass auch die Zukunftskonferenz der Artenvielfalt gewichtigen Platz in ihren Empfehlungen einräumte, überzeugt, dass wir uns den weiteren Verlust der biologischen Vielfalt nicht erlauben dürfen, wenn wir die bevorstehende weltweite biologische Tragödie, die sich mit dem seit Aussterben der Dinosaurier größten Artenschwund abzeichnet, noch verhindern, zumindest abmildern wollen. Deshalb auch mit diesem abgewandelten Zitat ein aufrüttelnder Lesehinweis, der sicherlich auch für Politiker*innen auf allen Entscheidungsebenen der EU kurz vor der COP 15 noch rechtzeitig kommt: Matthias Glaubrecht, Das Ende der Evolution - Der Mensch und die Vernichtung der Arten, 2019, Bertelsmann-Verlag, ISBN 978-3-570-10241-1. |
6. Juli: Plenardebatte zum Beginn der Tschechischen Ratspräsidentschaft und zu den Ergebnissen des jüngsten EU-Gipfels
Die Erwartungshaltung an die tschechische Ratspräsidentschaft ist eher gedämpft. Wenn gleich die tschechische Ratspräsidentschaft vor der riesigen Herausforderung an die EU steht: wie kann diese real zum sofortigen Waffenstillstand und zur Beendigung des Krieges in der Ukraine aktiv beitragen? Umso bedauerlicher ist es, dass Frankreich ihnen noch einige große unbewältigte Aufgaben hinterlässt. So hätte auf der Tagesordnung des Gipfels eigentlich auch der Beschluss über die Einberufung eines Konvents zur Änderung der EU-Verträge stehen sollen. Das hatte Präsident Macron zum würdevollen Abschluss der Konferenz über die Zukunft Europas und Frankreichs Ratspräsidentschaft versprochen. Doch der Rat war viel zu verzagt und ignorierte letzte Woche die formell laut Artikel 48 auf den Weg gebrachte Forderung des Europaparlaments zur Änderung der Verträge. Als Die Linke nehmen wir die 800 Bürger*innen sehr ernst, die ein Jahr lang daran gearbeitet haben, eine Reihe von sehr gelungenen Vorschlägen zur Verbesserung unserer Europäischen Union zu formulieren. Jetzt fordern wir die Tschechische Ratspräsidentschaft auf, Nägel mit Köpfen zu machen und die Einberufung des Konvents auf ihre Prioritätenliste zu setzen. Die EU braucht eine soziale, ökologische, demokratische und strukturelle Modernisierung, nicht zuletzt um fähig zu werden, auch neue Mitglieder aufzunehmen. Das Programm der tschechischen EU-Ratspräsidentschaft kann online nachgelesen werden. Die Plenarsitzung kann wie immer live verfolgt werden. |
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