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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 48, 04. März 2022
Liebe Leserinnen, liebe Leser,

Neun Tage Krieg Russlands gegen die Ukraine und nie denkbaren Blutvergießens und noch immer ist kein Frieden in Sicht. Im Gegenteil: Die Kriegshandlungen der russischen Armee auf Befehl des Herrschers im Kreml scheinen sich sogar noch zu verschärfen, denn offensichtlich ist die vollständige Unterwerfung des Nachbarstaats Kriegsziel. Mein Entsetzen über den Überfall auf die Ukraine und die Bitternis, dass Russland mit Krieg seine Interessen sucht durchzusetzen, koste es was es wolle, hält an - wie überall in unserem Land und in der EU.

Ja, der Konflikt hat eine Vorgeschichte. Was jetzt auf Putins Geheiß im slawischen Nachbarstaat verbrochen wird, beendet diese Vorgeschichte auf dramatischste Weise, verändert die Zeitenläufe. Diese Aggression ist erstens durch nichts zu rechtfertigen und wird zweitens das gesamte politische Beziehungsgeflecht, wie es als Vision 1990 in Paris in angenommener Überwindung des Denkens und Handelns in den Jahrzehnten des Kalten Krieges für einen Neuanfang des Zusammenlebens auf unserem Kontinent entworfen wurde, umwerfen. Und die so aktuell drängenden, und von ihrer Dimension her schier titanisch notwendigen Anstrengungen zur Bewältigung von Klimawandel, Armutsbeseitigung, Globales Zusammenstehen gegen eine Pandemie, Umbau der Wirtschaft, Ernährungs- und Energiesicherheit und, und, und werden unter dem berechtigen Anspruch auf Frieden, Sicherheit und Stabilität nun unter der Last von Aufrüstung und  Stärkung des Militärischen zurückgedrängt, erschwert und verzögert.

Russland fällt nicht nur als Partner in diesem so notwendigen, international gemeinsam zu organisierenden Ringen für die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen aus. Nein, es verkompliziert vielmehr diese auch vom Kreml unterzeichnete Aufgabenstellung auf nicht entschuldbare Weise. Den Klimawandel schert der Krieg um Machtinteressen und verlorene historische oder utopische Träume nicht. Aber die Jugend - in der Ukraine, in der Russischen Föderation und in den EU-Staaten wie anderswo, haben eine Anspruch auf Zusammenarbeit, auf freien Meinungsaustausch und Mitentscheidung darüber, und wie und mit wem sie diese Aufgaben angehen wollen.

Unterbrechungen von Lieferketten, die Zerstörung der Kornkammer Ukraine und der Ausfall der russischen Weizen-Exporte durch die aktuell notwendigen Sanktionen machen auch die Bevölkerungen in anderen Regionen außerhalb Europas zu Opfern dieser russischen Aggression. Und sicherlich werden wir mit jedem Tag des andauernden Krieges neue Konstellationen bewerten und gewichten müssen.

Deshalb: Dieser Krieg, kein Krieg ist durch nichts zu rechtfertigen. Auch gerade nicht in einer Zeit, in der sich mit Russland und der Nato hochgerüstete Seiten mit modernsten Waffensystemen gegenüber stehen. Einer Eskalation ist aktiv entgegenzutreten, deshalb kann ich auch die jetzt wiederum reflexhaften Antworten, mit immer mehr Summen die militärische Gegenüberstellung zu zementieren, nicht gutheißen. Im Krieg reicht auch ein Missverständnis oder ein taktisch-strategisch bedingtes Agieren, wie die Einnahme von Atomkraftwerken, um den Weltenbrand zu entfachen.

Besonnenheit und Vernunft sind notwendig, um eine Ausweitung dieses in Europa eröffneten Kriegsschauplatzes auszuschließen - mit allen politischen und diplomatischen Mitteln. Alles andere, dies muss man so deutlich sagen, kann die gesamte Menschheit ins Verderben stürzen. Über die konkreten, schon in den nächsten Wochen anstehenden vielfältigen Auswirkungen auf mein unmittelbares Arbeitsgebiet, die internationalen Wirtschafts- und Handelsbeziehungen, will ich an dieser Stelle gar nicht reden. Aber so viel ist klar: Der Konflikt um die Ukraine wird diese grundlegend verändern.

Es gibt nur eine Lösung: Den sofortigen Stopp der Invasion. Am Verhandlungstisch müssen ernsthafte und lösungsorientierte Gespräche geführt werden. Es ist keine Zeit für Alibiveranstaltungen. Denn die Leidtragenden sind die Menschen – in der Ukraine ebenso wie in Russland, die diesen Krieg nicht gewollt haben. Auch deshalb habe ich in dieser Woche gemeinsam mit über 80 Parlamentariern über Fraktionsgrenzen hinweg die Europäische Kommission und die EU-Mitgliedsstaaten aufgefordert, einen europäischen Unterstützungsmechanismus für geflüchtete Kinder einzurichten. Dazu gehört die Schaffung eines humanitären Notfallkorridors für Familien mit Kindern und verwaiste und unbegleitete Kinder ebenso wie die Unterstützung der Familien.

Leider sind die Reaktionen der Bundesregierung auf den Konflikt keine friedenspolitische, sondern eine kriegspolitische Antwort. Immer mehr Waffenlieferungen in das Kriegsgebiet, 100 Milliarden Euro für die Rüstung, Einknicken vor den Nato-Zielen für "Verteidigungsausgaben" – dies alles trägt weder zur Befriedung des aktuellen Konflikt bei, noch wird es Sicherheit für die Zukunft bringen. Dass damit ein neues Wettrüsten mit all seinen Gefahren droht, wie wir es aus den 80er Jahren des vergangenen Jahrhunderts kennen und eigentlich für überwunden hielten, ist ein düsteres Szenario. Zumal zentrale Vereinbarungen für Rüstungsbegrenzung, Abrüstung und gemeinsame Sicherheit in den letzten Jahrzehnten im Wesentlichen auf Betreiben der USA aufgekündigt wurden.

Es ist klar, dass der Krieg vor unserer Haustür auch die Beratungen der EU-Zukunftskonferenz prägen wird. Die COFE geht nun in ihre Schlussphase. In der kommenden Woche wird in Straßburg die nächste Plenarkonferenz stattfinden, in der unter anderem die Berichte aus den Bürger*innenversammlungen zu solchen Themen wie Jugend, EU in der Welt oder Migration und Flucht – angesichts der aktuellen Situation hochbrisante Themen – beraten werden. Dazu, wie zu anderen Schwerpunkten der nächsten Woche, lesen Sie unten mehr.

Ihr

Helmut Scholz

10. März: Plenardebatte zur EU-Strategie für nachhaltige Textilien

Seit drei Jahren warten wir darauf, dass die EU-Kommission das Versprechen ihrer Präsidentin umsetzt und eine Strategie für nachhaltige Textilien vorlegt. Diese Industrie beschäftigt weltweit Millionen Menschen zu meist ausbeutenden Bedingungen. Die Produktionsmethoden verbrauchen und verschmutzen Unmengen von Wasser.

Jede Europäerin und jeder Europäer konsumiert im Schnitt 26 kg Textilien pro Jahr und wirft davon 11 kg weg. Wenn die EU-Kommission die im Green Deal gesteckten Nachhaltigkeitsziele erreichen will, muss nun endlich mal was kommen. Ich habe Redezeit für das Plenum des Parlaments beantragt, um unsere mit den Organisationen der Zivilgesellschaft abgestimmten Forderungen in die Debatte einzubringen.

Wir brauchen ein Recht auf würdige Arbeit entlang der Lieferketten. Wir brauchen eine rechtsverbindliche Verantwortung der Unternehmen in Europa, Umweltverbrechen in der Produktion zu verhindern. Wir brauchen eine Begrenzung der Gesamtmenge an Textilien, die zu vergünstigten Zöllen in die EU importiert werden darf. Wir brauchen eine Förderung von Recycling im Textilsektor. Das alles dient auch dem Schutz von Unternehmen und Beschäftigten, die innerhalb und außerhalb der EU zu besseren und fairen Bedingungen produzieren.

Die Debatte können Sie hier live in der EU-Sprache Ihrer Wahl verfolgen. Sie beginnt etwa 09:30 Uhr:

https://multimedia.europarl.europa.eu/de/webstreaming/plenary-session_20220310-0900-PLENARY

Hier finden Sie einen offenen Brief von Organisationen aus der Zivilgesellschaft an die EU-Kommission zu diesem Thema:

https://eeb.org/wp-content/uploads/2022/02/CSOs-Letter_Commissioners_Textiles_220222.pdf

10. - 12. März: 4. Plenarversammlung der Konferenz zur Zukunft Europas

Im Anschluss an die Plenarwoche wird sich von Donnerstagnachmittag bis Samstagabend wiederum die Plenarversammlung der Zukunftskonferenz zur vierten Beratung im Plenum und ihren neun Arbeitsgruppen zusammenfinden.

Diese kommende Plenarversammlung wird die bislang noch nicht diskutierten Empfehlungen der Bürger*innen-Foren 1 und 4 zum Arbeitsschwerpunkt haben; denn beide Bürger*innen-Foren mussten - wie schon hier berichtet - mit ihren abschließenden Beratungen in Maastricht und Dublin mehrfach wegen der Pandemiesituation verschoben werden. Sie konnten erst am letzten Februar-Wochenende mit der Verabschiedung ihrer Empfehlungen an die Zukunftskonferenz abgeschlossen werden. Vielleicht haben sie ja die ein oder andere Debatte im Webstreaming über die digitale Plattform verfolgt. Was generell auch am kommenden Wochenende hinsichtlich der Plenarkonferenz, einschließlich der Arbeitsgruppen, möglich sein wird.

Auf der Tagesordnung stehen diesmal die Präsentationen und Empfehlungen aus dem Bürger*innen-Forum 1 „Eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung, Digitaler Wandel und Bildung, Kultur, Jugend und Sport“ sowie aus Forum 4 „Die EU in der Welt. Migration“. Eine gewaltige Themenbreite und Komplexität, die es auch schon durch den gedrängten und kompakten Zuschnitt den jeweils 200 zufällig ausgewählten Bürger*innen nicht leichtgemacht haben, zu Empfehlungen zu kommen.

Die Plenarkonferenz selbst wird diese Themen nochmals bündeln und in den neun Arbeitsgruppen nunmehr ihre Rückantworten and die Bürger*innen-Foren formulieren, sichten was zu gleichen Themenstellungen auf der Digitalen Plattform EU-weit an Meinungen und Vorschlägen eingestellt oder auch diskutiert wurde und die Arbeiten an konkreten Schlussfolgerungen für die finale Phase der Konferenz beginnen.

Ein besonderes Augenmerk ist definitiv auf die Vorschläge der Bürgerinnen und Bürger zu „eine stärkere Wirtschaft, soziale Gerechtigkeit und Beschäftigung“ zu legen.

Hier einige Auszüge:

„Wir empfehlen die Einführung eines Mindestlohns, um eine ähnliche Lebensqualität in allen Mitgliedstaaten zu gewährleisten. [...] Der Mindestlohn sollte die folgenden Aspekte berücksichtigen:

  • Die EU sollte die wirksame Umsetzung sicherstellen, da derzeit nicht alle Mitgliedstaaten den Arbeitnehmerschutz angemessen anwenden.
  • Besonderes Augenmerk sollte auf die Überwachung und Verfolgung der Verbesserung des Lebensstandards gelegt werden.
  • Der Mindestlohn muss der Kaufkraft in den verschiedenen Ländern Rechnung tragen. Ein regelmäßiger Überprüfungszyklus ist erforderlich, um eine Anpassung an die sich ändernden Lebenshaltungskosten (z. B. durch Inflation) vorzunehmen.“

„Wir empfehlen, dass die EU über stärkere Kompetenzen in der Sozialpolitik verfügt, um auf der Grundlage einer gründlichen Diagnose Mindestvorschriften und Rentenleistungen in der gesamten EU zu harmonisieren und festzulegen. Die Mindestrente muss über der Armutsgrenze des jeweiligen Landes liegen. Das Renteneintrittsalter sollte je nach Berufskategorie unterschiedlich sein, wobei geistig und körperlich anstrengende Berufe früher in Rente gehen können. Gleichzeitig sollte es ein garantiertes Recht auf Arbeit für ältere Menschen geben, die auf freiwilliger Basis weiterarbeiten möchten.“

„Wir empfehlen der EU, sich langfristig und kontinuierlich zu verpflichten, ihren Anteil an nachhaltig erzeugter Energie deutlich zu erhöhen und dabei ein breites Spektrum an erneuerbaren Energiequellen zu nutzen, die den geringsten ökologischen Fußabdruck haben (auf der Grundlage einer ganzheitlichen Lebenszyklusanalyse). Außerdem sollte die EU in die Verbesserung und Erhaltung der Qualität der elektrischen Infrastruktur und des Stromnetzes investieren. Wir empfehlen außerdem, dass der Zugang zu Energie und die Erschwinglichkeit von Energie als Grundrecht der Bürger anerkannt wird.“

Eine Forderung von der Linken aber auch den Sozialpartner*innen ist, endlich das Protokoll zum “Sozialen Fortschritt” ins Primärrecht der EU aufzunehmen.

Da diesmal auch über die internationale Rolle der Union diskutiert wird, wird der Hohe Vertreter der Union für Außen- und Sicherheitspolitik, Josep Borrell, eingeladen.

Die Plenarversammlung wird von den drei Ko-Vorsitzenden des Exekutivausschusses geleitet und findet wie immer in den Räumlichkeiten des Europäischen Parlaments in Straßburg statt.

Geplant ist, dass durch intensive Arbeit der weiteren geplanten drei Tagungen der Plenarkonferenz - noch einmal im März und dann zwei weitere Treffen im April - dem Exekutivausschuss ihre Vorschläge als Schlussfolgerungen im Konsens der vier Trägerpfeiler der Konferenz, Parlament, Rat und Kommission sowie nationalen Parlamente schriftlich dem Exekutivausschuss zuleiten, der auf dieser Grundlage einen Bericht in uneingeschränkter Zusammenarbeit und in vollständiger Transparenz mit der Plenarversammlung den drei Präsidenten von Parlament, Rat und Kommission zuleitet. Und zugleich mit den Bürger*innen-Foren rückgekoppelt werden muss.

Aber nun erst mal an die Arbeit - zum Folgeprozess in der Zukunft mehr.

Als Erinnerung hier nochmal der Faktencheck:

Die Plenarversammlung der Konferenz setzt sich gleichberechtigt aus 108 Vertreter*innen des Europäischen Parlaments, 54 Vertreter*innen des Rates und drei Vertreter*innen der Europäischen Kommission sowie 108 Vertreter*innen aller nationalen Parlamente und aus 108 Bürgerinnen und Bürgern zusammen: 80 Vertreterinnen und Vertretern aus den Europäischen Bürgerforen, 27 aus nationalen Bürgerforen oder Konferenzveranstaltungen (einer pro Mitgliedstaat) sowie dem Vorsitzenden des Europäischen Jugendforums. Darüber hinaus nehmen der Ausschuss der Regionen mit 18 Vertreter*innen, der Wirtschafts- und Sozialausschuss mit 18 Vertreter*innen, die regionalen Behörden mit sechs gewählten Vertreter*innen und die lokalen Behörden mit sechs gewählten Vertreter*innen, die Sozialpartner*innen mit zwölf Vertreter*innen und die Zivilgesellschaft mit acht Vertreter*innen teil.

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