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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 38, 10. Dezember 2021
Liebe Leserin, lieber Leser,

hätten Sie es gewusst? Am Mittwoch vor 30 Jahren wurde die Auflösung der UdSSR vertraglich vereinbart. Es ist enttäuschend - und angesichts der jüngsten Entwicklungen um die Ukraine und an der Grenze zwischen Belarus und Polen sogar politisch äußerst gefährlich -, dass "der Westen" und insbesondere die EU noch immer keine tragfähige Strategie gegenüber Moskau entwickelt haben und die damals hehren Beschwörungen, nach dem Kalten Krieg eine gesamteuropäische Sicherheitsarchitektur zu schaffen, sind wohl im Verkämpfen um eigene politische und wirtschaftliche Interessendurchsetzung endgültig ins Nirwana entschwunden. Zumindest aber aus jeglicher aktueller politischer Debatte, einschließlich eines ernsthaften Nachdenken über die Einleitung eines außenpolitischen Narrativwechsels, der ein gemeinsames Meistern der gewaltigen globalen Herausforderungen ermöglichte. Tragfähige Strategie heißt für mich dabei, die legitimen Interessen aller Seiten ernst zu nehmen und die Russische Föderation nicht als Feindin, sondern als Partnerin beim in Angriff nehmen dieser drängenden Aufgaben zu betrachten, was das gegenseitige Ansprechen grundlegender Problem und Differenzen nicht ausschließt, sondern erst ermöglicht. Frieden, Sicherheit und nachhaltige Entwicklung sind nicht gegen, sondern mit der Russischen Föderation zu erreichen. Ein Politikansatz des massiven Drucks läuft einer zukunftsfesten Ausgestaltung des bilateralen Verhältnisses EU-Russische Föderation zuwider und hat fatale Folgen auch auf die Nachbarschafts- und Beitrittspolitik der EU. Schon gar nicht ist eine solche Politik geeignet, die Zivilgesellschaft in Russland zu unterstützen, was von konservativer Seite immer wieder als Argument zu hören ist.

Ja, es ist legitim, Kritik an der Entwicklung in Russland zu üben, am Vorgehen gegen Oppositionelle, an der zunehmenden sozialen Spaltung der Gesellschaft, am autokratischen Kurs des Präsidenten. Nicht legitim ist es, ausschließlich mit westeuropäischen Maßstäben zu messen, eine hasserfüllte Rhetorik gegenüber Moskau an den Tag zu legen, objektive Interessen Russlands zu missachten - wie in der Sicherheitspolitik, Stichwort Einkreisung durch die NATO. Statt in eine offene Diskussion über die vielen strittigen Fragen einzutreten, werden gegenseitig Sanktionen umgesetzt, der Krieg der Worte wird immer weiter forciert. Leider treibt auch eine Mehrheit im Europäischen Parlament diese Konfrontationsspirale seit Jahren weiter voran. Es ist auch nicht hilfreich, ja kontraproduktiv, einen Dialog auf offizieller Ebene mit Russland abzulehnen oder ihn mit einseitigen Forderungen unmöglich zu machen.

Ein offener Dialog muss auch das weitere Vorgehen bei der EU-Zukunftskonferenz bestimmen. Leider musste nicht nur das für vergangenes Wochenende geplante Bürger*innenforum in Dublin verschoben werden, auch jenes im Januar in Maastricht wurde abgesagt - die Corona-Pandemie hat abermals ihren Tribut gefordert. Auch wie und wann die nächste Plenarkonferenz, der institutionelle Teil von CoFoE, stattfindet, ist unklar. Ganz offensichtlich ist jedoch, dass es dem Rat, also den Regierungen der EU-Staaten, ganz gut "in den Kram passt", dass die Konferenz ins Stocken gerät. Schließlich war es der Rat selbst, der CoFoE immer wieder verzögert hat und der Änderungen am europäischen Vertragswerk scheut wie der Teufel das Weihwasser. Ich werde mich jedoch in jedem Falle dafür einsetzen, dass die Zukunftskonferenz konsequent und konstruktiv vorangebracht wird.

 

Ihr

Helmut Scholz

14. Dezember: Europäisches Jahr der Jugend

Vor  dem Hintergrund, dass 2022 von der EU zum Europäischen Jahr der Jugend erklärt wurde, intensive Debatten um die Dimension stärkerer Zuwendung zu den Problemen von vielen Jugendlichen begonnen haben, sich junge Leute konkret und konstruktiv-kritisch nicht nur für ihre, sondern gesamtgesellschaftliche Probleme und deren Lösungen einsetzen, aber auch viele junge Menschen sich gar nicht für Politik und europäische Entscheidungsprozesse interessieren geschweige denn engagieren,  bleibe ich wie schon wie in der Vorbereitungsphase der CoFoE dabei: Der Jugend muss ein gewichtiger Platz in dieser Zukunftsdebatte über die EU gewährt werden. Sie muss zu konkreten Ergebnissen geführt werden, und diese sind dann in einem transparenten Folgeprozess zeitnah umzusetzen: auf allen politischen Ebenen. Das heißt: Junge Menschen müssen mitreden und mitentscheiden können - denn sie wollen es. Was sollte ein besseres Forum dafür sein als die EU-Zukunftskonferenz? In den Bürger*innenversammlungen (-panels) sind junge Menschen zwischen 16 und 25 zu einem Drittel vertreten. Alle an der Konferenz beteiligten Strukturen - ich habe dazu ja bereits mehrfach auch hier berichtet und versucht die Komplexität dieser Unternehmung nachvollziehbar zu machen -  müssen nun dafür Sorge tragen, dass die Einbeziehung der Ideen und Wünsche an die Zukunft der EU nicht mit einem möglichen Ende der Konferenz ergebnislos versickern. Aber genauso wichtig ist, die Bildungsprozesse und Aufklärung zum Funktionieren von Politik zu intensivieren. In einigen Jugendversammlungen in den vergangenen Wochen habe ich zu diesem Themenkomplex meinen Vorschlag getestet, EU-weit ein einheitliches Bildungs-Paket einzuführen, einschließlich eines Schulbuch/Bildungshefts, dass nicht so sehr nur die Strukturen erklärt, sondern Erfahrungen, Wertevorstellungen, Erfolge und Versagen europäischer Politik sowie die unterschiedlichen Sichtweisen auf die EU vermittelt.

Das Europäische Parlament wird am Dienstagmorgen über den Bericht über den Vorschlag für einen Beschluss des Europäischen Parlaments und des Rates über ein Europäisches Jahr der Jugend 2022 debattieren und darüber abstimmen. Beides kann wie immer im Livestream verfolgt werden.

14. Dezember: Umsetzung des Zertifizierungssystems des Kimberley-Prozesse

Rohdiamanten - besser bekannt unter dem sie treffend charakterisierenden Begriff Blutdiamanten - sind bis heute ein zentraler Antrieb für Mörderbanden in der Zentralafrikanischen Republik, in Kamerun und Nord-Nigeria, unter anderem Boko Haram. Es geht um sehr viel Geld. Wieviel Blut klebt an den Diamanten, die auch in diesem Jahr in Europa an Weihnachten verschenkt werden? Der Kimberley-Prozess, der das verhindern sollte, funktioniert nicht gut. Einstimmig fordert der Handelsausschuss von der EU-Kommission, mehr Druck zu machen, um den Kimberley-Prozess zu reformieren. Deshalb jetzt auch eine Aussprache mit der EU-Kommission zum Thema, weil das Europarlament über keine direkte Mitsprache dazu verfügt. Wo und wenn die Kommission aussagt, dass das nicht möglich ist, fordere ich eine eigene Einfuhrgesetzgebung der EU, um den Kauf von diesen durch brutalste Ausbeutung geförderten Diamanten endlich zu unterbinden. Nutzen wir, was technologisch heute möglich ist. Kein Stein ohne geprüfte Ursprungskennzeichnung sollte künftig in europäischen Schmuck gelangen.

Die Debatte des Europäischen Parlament kann am Dienstagnachmittag im Livestream verfolgt werden.

16. Dezember: Kontinuierliches Vorgehen gegen die Zivilgesellschaft und Menschenrechtsverteidiger*innen in Russland: der Fall der Menschenrechtsorganisation Memorial

Wieder wird sich das Europaparlament - wie bei jeder Plenartagung - mit aus seiner Sicht gravierenden Verstößen und Verletzungen international anerkannter Menschen- und Grundrechte sowie problematischen Entwicklungen um die Einhaltung von Rechtstaatlichkeit befassen. Sie kennen das ja bereits aus Wortmeldungen und auch Kommentierungen hier im Newsletter. Dieses Mal geht es um das Vorgehen gegen die international bekannte russische NGO Memorial.

Die russische Generalstaatsanwaltschaft und die Staatsanwaltschaft der Stadt Moskau haben im November beim Obersten Gerichtshof Russlands bzw. beim Moskauer Stadtgericht Klage auf Auflösung der Internationalen Memorial-Gesellschaft bzw. des Memorial-Menschenrechtszentrums erhoben – eine der ältesten und bekanntesten zivilgesellschaftlichen Organisationen, die sich seit 30 Jahren mit der Geschichte der politischen Unterdrückung und der Wahrung der Menschenrechte in Russland befasst. Die Anschuldigungen stützen sich im vorliegenden Fall auf angebliche Verstöße gegen die russische Gesetzgebung über „ausländische Agenten“, insbesondere auf das Versäumnis, sich öffentlich als ausländische Agenten auszuweisen. Nach Auffassung der Generalstaatsanwaltschaft stelle dies einen Verstoß gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung und die Rechte des Kindes dar, die in der russischen Verfassung, dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte, dem Internationalen Übereinkommen über die Rechte des Kindes und der Europäischen Menschenrechtskonvention verankert sind. Zudem wird dem Memorial-Menschenrechtszentrum vorgeworfen, „terroristische und extremistische Aktivitäten zu rechtfertigen".

Das Verfahren gegen gerade diese aktive zivilgesellschaftliche Nichtregierungsorganisation wirft erneut Fragen auf in Bezug auf Transparenz, Ehrlichkeit und Unparteilichkeit des russischen Staatsapparates im aktuellen Umgang mit  NGOs unterschiedlichsten Charakters, die sich in demokratische Gestaltungsprozesse der Gesellschaft einbringen. Verbunden sind damit grundlegende Fragen an das Verständnis der Rolle und Funktion zivilgesellschaftlichen Engagments - und diese sind ja durchaus nicht auf die Russische Föderation beschränkt, so wie es ähnliche Einstufungen wie hier mit der “Ausländische Agenten”- Gesetzgebung auch in vielen Staaten entsprechende Einschränkungen eines offenen gesellschaftlichen Dialogs gibt. Doch wie soll und will die EU damit umgehen?

Rat und Parlament der Europäischen Union reagieren auch in diesem Falle mit einer Fortsetzung und Verschärfung einer Politik der Sanktionen gegen Russland, die bisher nicht zu einem erhofften Politikwechsel geführt hat, sondern zu Gegensanktionen seitens Russland. Das Verhältnis verschlechtert sich zunehmend. Alle Fraktionen werden ihre Resolutionsentwürfe vorlegen, und eine Fraktion ist dann federführend beauftragt, den Wortlaut einer möglichen gemeinsamen Kompromiss-Entschließung des Parlaments mit allen Fraktionen auszuhandeln.

Ich sage deutlich, dass dieses „Agentengesetz“ fehl am Platz ist, und erst recht ist dieses fadenscheinige, mutwillig zusammengeschusterte Vorgehen gegen Memorial nicht zu akzeptieren. Es muss doch möglich sein, im 21. Jahrhundert, mit all den bitteren Erfahrungen, die ein Ausschalten demokratischer Opposition und außerparlamentarischer Meinungsbildung für die Demokratie bedeutet, ernsthaft den gesellschaftlichen Diskurs und einen konstruktiven Dialog auf Augenhöhe miteinander zu führen. Das geht nicht nur über die politischen Institutionen einer repräsentativ aufgebauten Demokratie, sondern braucht ebenso breitest mögliche, anerkannte partizipative Formen und Strukturen und direktdemokratische Mechanismen und Instrumente, also die Einbeziehung aller Bürger*innen und zivilgesellschaftlicher Akteur*innen. Daher appelliere ich, unserem Resolutionsentwurf zuzustimmen und die russische Regierung aufzufordern, das Verfahren gegen Memorial einzustellen, der freien Meinungsäußerung Vorrang zu geben und die gegenseitige Präsenz auch von aus dem Ausland finanzierten Organisationen der Zivilgesellschaft in Nachbarländern anzuerkennen, so dass ein interkultureller Dialog und Austausch weiterhin möglich ist.

Hier sollte auch die neue deutsche Bundesregierung durch eine dialogorientierte Strategie im Rat darauf hinwirken, die Spirale von Konfrontationslogik endlich zu beenden, und darauf hinwirken, die bestehenden Spannungen durch eine Rückkehr zum transparenten Dialog aufzulösen. Insbesondere im Interesse der Lösung unterschiedlicher Auffassungen und des Funktionierens pluraler Meinungsbildung, auch und gerade im Sinne einer langfristigen Perspektive für Memorial.

 

Die Debatte im Europäischen Parlament kann am Vormittag im Livestream verfolgt werden.

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