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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 123, 24. November 2023
Liebe Leser:innen,

der Europaparteitag der LINKEN hat vor einer Woche in einer für die Partei nicht leichten Situation wichtige Weichen gestellt. Ich bin überzeugt, dass sie uns in die richtige Richtung führen – mit einer gesteigerten Politikfähigkeit und gesellschaftlicher Relevanz Sicher haben Sie die Berichterstattung „über Augsburg“ verfolgt. Einige Punkte möchte ich trotzdem noch einmal hervorheben.

Das Wichtigste vorneweg mit Blick auf die im Europawahljahr 2024 vor uns liegenden Herausforderungen: Mit dem beschlossenen Wahlprogramm hat der Parteitag eine klare Linie vorgeben, wie DIE LINKE die Interessen der arbeitenden Menschen in allen 27 Mitgliedsstaaten zum Ausgangspunkt linken Handelns im Europaparlament machen und so auch die immer weiter voranschreitende Rechtsentwicklung in Europa aufhalten will.

Wie dringend diese Aufgabe ist, hat der Sieg des Rechtsextremisten Wilders am Mittwoch in den Niederlanden gezeigt. Er hat auf eine Abschottung Europas gesetzt, auf eine Verschärfung der schon jetzt inhumanen Migrations-, Flüchtlings- und Asylpolitik, auf das Spiel mit den Ängsten, Sorgen und Zweifeln, die in Zeiten, in denen eine Krise die Nächste jagt, so viele Menschen umtreiben. Eine Mixtur, die das Potenzial hat, Politikgestaltung auf EU-Ebene in die Sackgasse zu führen. Besorgniserregend auch der auf den Fuß folgende Schulterschluss mit anderen Rechtspopulisten aus verschiedenen Ländern Europas, von Le Pen aus Frankreich bis Orban aus Ungarn. Traditionell christlich- demokratische und konservative Parteien geben diesem Druck auf gesellschaftliche Diskurse immer mehr nach und übernehmen den Narrativwechsel.

Leider braucht es nicht viel Phantasie, um zu erahnen, wohin dieser Kurs führen kann: Ein Zuwachs der rechtsextremen und -populistischen Parteien in den Regierungen der Mitgliedstaaten verschiebt auch die Kräfteverhältnisse im EU-Rat. Und auch im Europaparlament könnten diese Kräfte europäischen Gesetzen bald ihren Stempel aufdrücken, wenn die aktuellen Stimmungslagen für ein weiteres Anwachsen ihrer Sitze sorgen und sich die Bereitschaft der EVP zur Zusammenarbeit mit ID und EKR anhält. Rechtsextreme könnten so über die gesamte Entwicklung der EU maßgeblich mitentscheiden. Welche Vision könnte damit bald Realität werden? Ein Zurück zum „Europa der Vaterländer“, eine Absage an solidarische, gemeinsame Standards, eine Verweigerung des sozialen und ökologisch nachhaltigen Umbaus unseres Wirtschaftssystems im Interesse der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaften.

Mit unserem Wahlprogramm stellen wir uns diesen Tendenzen eines Rechtsrucks konsequent entgegen. Zugegeben, es ist gehörig lang geworden, doch auf gut 80 Seiten bindet es konkrete Vorschläge für die Verbindung der EU-Politik mit nationalen Herausforderungen und Aufgabenstellungen in den verschiedensten Bereichen, wie etwa der Wirtschafts- und Umwelt-, der Innen- wie Kulturpolitik, der Außen- und Sozial-, Agrar- und Wissenschaftspolitik in der einzigartigen Mehr-Ebenen-Entscheidungsstruktur der EU zusammen. Denn letztlich sind es vor allem die schwierige soziale Situation, die Unsicherheiten und die vielfältigen Krisen, die den Rechten in die Hände spielen. Daher setzt DIE LINKE in ihrem Europaprogramm konsequent auf soziale Gerechtigkeit, einen ökologischen Umbau der Wirtschaft, Demokratie und Menschenrechte ebenso wie auf Klimagerechtigkeit, Frieden und Abrüstung und ein faires Zusammenleben mit dem Globalen Süden.

Für diesen Kurs stehen zweifellos auch die Kandidat:innen, mit denen unsere Partei erneut um den Einzug einer starken Delegation im EU-Parlament kämpfen wird. Und im Wahlkampf, aber auch in der „Alltags“arbeit einer dann hoffentlich gut vertretenen Abordnung im Europäischen Parlament können die Kandidat:innen auch an unsere bisherige Arbeit anknüpfen – für Martina Michels, Cornelia Ernst und mich sind dies jeweils 15 Jahre Einsatz für konkrete linke Europapolitik, den wir am 9. Juni abschließen. Und sie können sich auf eine bemerkenswerte Unterstützung seitens der bisherigen Mitarbeiter:innen und Fachleuten verlassen, denen ich ausdrücklich schon einmal an dieser Stelle Danke sagen möchte, da dies auf dem Parteitag leider etwas zu kurz gekommen ist. Aber wie meinen über 120 Ausgaben dieses Newsletters sicherlich zu entnehmen war: ohne die Fraktions- und persönlichen Mitarbeiter:innen in Fraktion, Delegation und in den Wahlkreisbüros funktioniert keine schlagkräftige, um konstruktive und gesellschaftlich relevante, auf demokratische und Öffentlichkeit abzielenden Europapolitik.

Zum neuen Kandidat:innen- Team gehören die bisherigen Europaabgeordneten Martin Schirdewan und Özlem Demirel, aber auch die Aktivistin Carola Rackete und der Sozialmediziner Gerhard Trabert, die unsere Partei weiterhin und sicher noch stärker zu Nichtregierungsorganisationen und zur Zivilgesellschaft öffnen können. Denn auch dieser Aspekt war wichtig für die Delegierten des Augsburger Parteitages. Auf den folgenden Plätzen nach diesen vier Genannten finden sich auch viele kompetente Frauen und Männer, denen DIE LINKE. Delegierten die Verantwortung übertragen haben, mit ihren Vorstellungen und der Erläuterung der Positionen der Linken um ein gutes Ergebnis bei den Wahlen zu erreichen. Aber dazu dann sicherlich ab Februar / März nächsten Jahres viel mehr Konkretes auch an dieser Stelle.

Dass „ein anderes, gerechtes, hoffnungsvolles Europa möglich“ ist, wie es im Wahlprogramm heißt, und was dazu an Arbeit zu leisten ist, hat sich in der zu Ende gehenden Plenartagung diese Woche sehr anschaulich gezeigt. In einer historischen Abstimmung hat das EU-Parlament am Mittwochnachmittag eigene Vorschläge für eine Reform der EU-Verträge beschlossen. Nachdem das Parlament sich bereits im vergangenen Jahr für die Ausrichtung eines vertragsverändernden Konvents nach Artikel 48 EUV ausgesprochen hatte, folgte keine Reaktion des Rates. Mit dem jetzt abgestimmten fraktionsübergreifenden, von EVP bis zur Linken erarbeiteten Bericht wollen wir den Druck auf die Regierungen der Mitgliedsstaaten erhöhen. Das Papier fordert in den allermeisten Politikfeldern – mit Ausnahme von militärischen Missionen oder Operationen mit Exekutivmandat – die lange überfällige Abkehr vom Einstimmigkeitsprinzip im Rat. Ebenso die Verankerung eines Sozialen Fortschrittsprotokolls in den Verträgen, so wie wir es vorschlagen, kann ein großer Schritt zu einem sozialen Europa werden und würde einen wichtigen Teil zur Gerechtigkeit der laufenden Transformationsprozesse beitragen.

Mit seinem Beschluss hat das Parlament einen ehrgeizigen Vorschlag für eine emanzipierte, handlungsfähigere und demokratischere Union vorgelegt. Wie soll dies erreicht werden? Im Zentrum steht die Überwindung des Einstimmigkeitsprinzips in zahlreichen Politikfeldern sowie eine Veränderung des politischen Beziehungsgeflechts der EU-Institutionen zueinander, etwa durch eine deutliche Stärkung des legislativen Initiativrechts für das Europaparlament, die Umwandlung der Kommission in eine Exekutive, die Neuausrichtung des EU-Rates in eine Art Zweite Kammer und eine Aufwertung des Ausschusses der Regionen und des Wirtschafts- und Sozialausschusses der EU. Aber ich will und muss auch ehrlich formulieren: der Gegenwind war stark. Die rechten Fraktionen und aber auch nicht wenige Abgeordnete in den anderen Fraktionen, auch in unserer linken Fraktion sehen die Vorschläge als Schwächung der nationalen Souveränität und der Eigenständigkeit der 27 Mitgliedstaaten.

Ganz klar: Es wird eines gewaltigen Kraftaktes in der Öffentlichkeit aller 27 Mitgliedstaaten und des aktiven Mitwirkens der linken und progressiven demokratischen Parteien und Kräfte bedürfen, um dem Rat die tatsächliche Einberufung eines Konvents zur Veränderung und Überarbeitung der EU-Verträge abzuzwingen. Der spanische EU-Ratsvorsitz hat in der Debatte zum Bericht erklärt, dass er die Parlamentsposition nach der Abstimmung sofort allen Mitgliedsländern weiterleitet und auf eine Entscheidung des Allgemeinen Rates am 12. Dezember über die Weiterleitung an den EU-Gipfel am 15. Dezember drängen wird, der dann über die Einberufung eines Konvents nach den Europawahlen im Juni 2024 entscheiden muss. Dies bedeutet: Auch auf nationaler Ebene wird es eine konkrete öffentliche Debatte brauchen, wie der weitere Integrationsprozesses aussehen sollte. Und dies nicht neben und parallel zu den Wahlkämpfen zum Europaparlament, sondern – gerade auch in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern und vielen anderen Bundesländern – in Verbindung mit unseren Aussagen und Zielsetzungen in den Kommunal- und Landtagswahlen.

Ja, einerseits sind wir mit einen großen Schritt gegangen, um unser Versprechen gegenüber den Bürger:innen aus der EU-Zukunftskonferenz nachzukommen und die EU zu reformieren. Andererseits wissen wir natürlich, wie grundlegend notwendig eine radikale Veränderung der EU-Verträge ist, wie dringend notwendig eine Neuordnung und damit eine Reform der EU-Institutionen ist, um den globalen Krisen und der Befähigung zu einer anderen Wirtschafts- und Sozialpolitik der EU selbst und darüber hinaus der potenziell anstehenden Erweiterung souverän begegnen zu können. Dass dieser neue Anlauf für Reformen nun vor dem Hintergrund einer großen Bürger:innen-Beteiligung zur Zukunft der Europäischen Union stattfindet, halte ich für einen historisch großartigen Vorgang.

Und es geht weiter: bereits am kommenden Mittwoch, dem 29. Dezember will ein wichtiger engagierter Teil der EU-weiten organisierten Zivilgesellschaft mit ihrem Projekt „Demokratische Odyssey“ in die gesellschaftlichen Debatten starten. Wer mit dabei sein will, kann sich hier registrieren

Die Linken stehen jetzt erst recht in der Verantwortung, ihre konkreten Ideen von einem sozialen und demokratischen Aufbau der EU in die gesellschaftlichen Debatten einzubringen, die für die anstehenden Vertragsveränderungen geführt werden müssen.

Ihr

Helmut Scholz

Auf der Tagesordnung

In der kommenden Woche kommen die EU-Abgeordneten in ihren Fachausschüssen zusammen. Alle Sitzungen werden live übertragen. Hier finden Sie die Tagesordnung des Handelsausschusses. Die Agenda des Ausschusses für konstitutionelle Angelegenheiten können Sie hier einsehen.

 

Montag 27. November 2023

Investitionen in den ökologischen und digitalen Wandel - Abkommen für Direktinvestitionen im Ausland

 

Dienstag 28. November 2023

Fiskalpolitik in Krisenzeiten - konstitutioneller Rahmen der Wirtschafts- und Währungsunion

 

Aktueller Stand & Ausblick der EU-Handelspolitik

 

Welthandel 2023 - Vorstellung des Jahresberichts

 

Mittwoch, 24. November 2023

Eine Bürgerversammlung für Europa - Auftakt zur demokratischen Odyssee

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