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Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 122, 10. November 2023
Liebe Leser:innen,
dieser Newsletter wird etwas länger – und das hat auch seinen Grund: In einer Woche wird der Europa-Parteitag der LINKEN in Augsburg beraten. Und nicht weniger als unser Wahlprogramm für die Abstimmung über das EU-Parlament im Juni kommenden Jahres beschließen. Ihm schließt sich die Vertreter*innenversammlung der Partei DIE LINKE. an, um die Bundesliste unserer Kandidat:innen für die „EU-Volksvertretung“ – übrigens das einzige multilaterale Parlament der Welt, das direkt gewählt wird – im demokratischen Wettbewerb zu wählen. Angesichts der zunehmenden europaweiten Diskursverschiebung nach rechts und angesichts der vielfältigen Krisen stehen wir als deutsche LINKE und als Europäische Linke weiterhin vor gewaltigen Herausforderungen. Mit unserem Wahlprogramm müssen wir deutlich machen, wofür wir uns als LINKE bisher eingesetzt haben und wofür wir auch zukünftig konkret stehen: Für eine Weiterentwicklung der EU, die soziale Gerechtigkeit und Solidarität in den Fokus stellt statt Wettbewerbsfähigkeit und Wachstum. Angesichts der Klimakatastrophe dürfen und können wir nicht in der Form weiter wirtschaften wie bisher. Der von der Kommission auf den Weg gebrachte Green Deal hat durchaus wichtige Ansätze, um der Klimakatastrophe und ihren Auswirkungen auf das Leben auf unserem Planeten entgegenzuwirken. Doch all die Strategien und Maßnahmen gehen nicht weit genug, solange wir nicht endlich unseren Ressourcenverbrauch deutlich zurückfahren und massiv in Klimaschutzmaßnahmen investieren. Für die Linke steht außer Frage, dass Klimaschutz auch immer sozial gerecht gestaltet sein muss. Wir sagen ganz klar: die Regionen und die Menschen vor Ort sind in jeden Schritt der konkreten Gestaltung der sozial-ökologischen Transformation einzubeziehen und sie müssen die Möglichkeit haben, nicht nur sich zu beteiligen, sondern auch mitzuentscheiden. Ein wichtiger Vorschlag unsererseits beinhaltet die notwendige erneuerbare Energieproduktion und -weiterleitung zu vergemeinschaften, sodass diese bezahlbar für alle ist und erzielte Gewinne in den Regionen verbleiben, um in Infrastruktur zu investieren. Wir fordern weitgehende Reformen zur Demokratisierung der EU-Institutionen, sodass zukünftig die Macht nicht mehr bei Kommission und Rat liegt, sondern das direkt gewählte Europäische Parlament Gesetzesinitiativen einbringen kann und soll. Regionen müssen stärker an der Entwicklung von EU-Politik beteiligt werden. Dies sind nur einige Punkte, die aus linker Sicht weiterhin in den Fokus gerückt werden müssen. Entscheidend ist vor allem, dass nicht mehr Staats- und Regierungschef:innen Entscheidungen von Kommission und vor allem dem Parlament blockieren dürfen, sodass wir eine gemeinschaftliche Politik über Grenzen hinweg entwickeln können. Nur so können wir die grenzübergreifenden Krisen im Sinne von Menschen und Umwelt bekämpfen und zukünftig präventiv verhindern. Das Programm hat aus meiner Sicht aber auch noch Leerstellen oder benennt noch nicht genau genug die in den nächsten fünf Jahren anstehenden Aufgaben einer tiefgreifenden Veränderung von EU-Politik um die oben angerissenen Themen in der Mehrebenen-Demokratie der EU von heute. So müssen wir uns als Partei der Komplexität der bevorstehenden anvisierten Erweiterung durch Staaten wie Ukraine und Moldau oder die Überwindung des Stillstands der Verhandlungen mit den Staaten des sogenannten West-Balkans zuwenden und eine gesellschaftliche Debatte dazu anregen, denn die nächste Erweiterung wird viel Veränderungen des bisherigen Status quo in der EU mit sich bringen: in den Beitritt-Kandidaten Staaten aber ebenso weitreichend auch in der EU 27. Dies ist unter anderem auch in Verbindung mit den Fragen zu sehen, wie der künftige EU-Haushalt zu strukturieren sein wird, wie das bisherige Verhältnis zwischen Geber- und Nehmerländern neu auszutarieren sein wird um die mit weiteren Mitgliedsländern in der EU hinzukommenden Herausforderungen für die notwendige Vertiefung in einer erweiterten EU zu lösen. Als ein Beispiel sei genannt: die künftige Neuausrichtung der Gemeinsamen Agrarpolitik oder auch die Struktur- und Kohäsionspolitik der EU, um im Verständnis eines solidarischen und kohärenten Zusammenhangs eine Förderung für Infrastruktur oder soziale Projekte in der EU-27 zu erhalten und zugleich die Bedarfe der neu hinzukommenden Länder zu berücksichtigen. Was bedeutet dies für Länder wie Slowakei oder Tschechien, oder auch für Regionen wie Brandenburg oder Mecklenburg-Vorpommern, die ja bislang einen nicht unbedeutenden Teil ihres Landeshaushalts auch aus EU-Mitteln speisen konnten? Natürlich wird der Augsburger Parteitag auch Anlass sein für uns fünf Europaabgeordnete der Linkspartei, Bilanz zu ziehen. An diesem Wochenende wird der Zeitung „nd“, konkreter „nd.DieWoche“, eine Publikation beiliegen, in der wir über das Erreichte ebenso berichten wie über die Aufgaben im verbleibenden guten halben Jahr der Legislatur. Das ist auch ein diesmal etwas anders „angerichteter“ Bericht unserer regelmäßig den Parteitagen vorzulegenden Rechenschaftsberichten. Ich meine: Unsere Bilanz nach vier Jahren parlamentarischer und außerparlamentarischer Arbeit kann sich sehen lassen. Ob europäische Mindestlohn-Richtlinie oder Lieferkettengesetz, ob EU-Zukunftskonferenz oder Regionalförderung, ob Kampf gegen die unmenschliche Migrationspolitik oder die Deregulierung im Interesse der großen Konzerne, ob Einsatz für die Medienfreiheit oder die sozial-ökologische Energiewende für den Schutz des Klimas – wir linken Abgeordneten erheben unsere Stimme auf allen wichtigen Feldern der europäischen Politik und haben nicht selten unsere Handschrift in Gesetze und Entscheidungen eingebracht. Natürlich habe auch ich dabei Rechenschaft abgelegt. Auf meiner „Haben-Seite“ steht unter anderem die große, mehrjährige Konferenz über die Zukunft Europas – ich habe darüber mehrfach in meinem Newsletter geschrieben. Die Fakten dieser bislang historisch referenzlosen direktdemokratischen Beteiligung von Bürger:innen gemeinsam mit den „üblich Verdächtigen“ aus den EU-Institutionen und aus den Mitgliedstaaten, vom Ausschuss der Regionen ebenso wie den Sozialpartnern oder der Europäische Wirtschafts- und Sozialausschuss sind durchaus beeindruckend: Über fünf Millionen Online-Teilnehmer:innen auf der mehrsprachigen digitalen Plattform mit 44.000 Beiträgen zu mehr als 16.000 Ideen und gut 700.000 Besucher:innen aller Altersklassen auf den Foren mit Bürger:innen haben sich eingebracht und schlussendlich sind aus diesen Treffen 49 konkrete Empfehlungen mit mehr als 300 Maßnahmen zu neun Themenbereichen als Ergebnis entstanden. Gerade für uns Linke war die Zukunftskonferenz, kurz CoFE, nicht nur eine Chance, sondern vor allem auch eine Aufgabe. Es ging uns darum, gemeinsam mit progressiven Parteien, Nichtregierungsorganisationen, Gewerkschaften und anderen politischen Akteur:innen über Möglichkeiten zu beraten, wie wir Utopien, Positionen und konkrete Vorschläge für eine andere Ausrichtung der Europäischen Union wirksam umsetzen können. Dabei war für uns als Linksfraktion THE LEFT im EU-Parlament von Anfang an klar, dass es bei CoFE auch um eine mögliche Revision der Europäischen Verträge gehen müsse. Denn klar ist, dass der vor mehr als 15 Jahren in Kraft getretene Vertrag von Lissabon den Herausforderungen unserer Zeit nicht gerecht wird. Dies ist überdeutlich etwa bei den Aufgaben, die uns in Sachen Klimaerwärmung und der erforderlichen Neuausrichtung unserer Wirtschaftspolitik, beim Zugang zu Bildung und Gesundheitsversorgung, der Wiedergewinnung von Frieden und dauerhafter Versöhnung, im Bereich Migration, bei der Erfüllung der UN-Entwicklungsziele oder zum Erhalt der biologischen Vielfalt bevorstehen. Die 300 konkreten Aufträge aus der CoFE für die EU-Organe sollen, so hieß es bei der Abschlusszeremonie am 9. Mai 2022, nun innerhalb der Zuständigkeit dieser Gremien auf Umsetzbarkeit geprüft werden. Passiert ist bislang allerdings wenig. Aber nichts wäre für die Demokratie in der EU schädlicher, als wenn die Forderungen und Vorschläge der Bürger:innen in der Schublade verschwinden würden. Im Juni 2022 verpflichtete sich das Europaparlament mit übergroßer Mehrheit, den Prozess für die Ausrichtung eines Europäischen Konvents anzustoßen entsprechend Artikel 48 des EU-Vertragswerks. Dieser Konvent soll die für die Bürger:innen zentralen Veränderungen transparent und inklusiv diskutieren und sowohl institutionelle Fragen als auch die konkrete Ausrichtung einzelner Politikbereiche neu bestimmen. Ende 2022 wurde der Verfassungsausschuss (AFCO) vom Parlament beauftragt, konkrete Textvorschläge für eine gemeinsame Entschließung vorzulegen. Ziel ist es, das Artikel-48-Verfahren einzuleiten, über das eine Veränderung der Europäischen Verträge möglich ist. Für mich ist dies auch ein Auftrag für das verbleibende halbe Jahr der Wahlperiode: Ich werde mich weiter intensiv und sehr nachdrücklich für die Umsetzung der Schlussfolgerungen von CoFE einsetzen. Damit verknüpft ist auch das Instrument der Europäischen Bürgerinitiative, mit der die partizipative Demokratie in der Europäischen Union einen neuen Schwung erhalten könnte. In der Praxis bleibt dieses weltweit einzigartige Instrument jedoch weit hinter seinen Möglichkeiten zurück. In einer von mir beauftragten Studie wurde untersucht, „wo es klemmt“ und was zu tun ist, um die Hindernisse zu überwinden. Auch in der Handelspolitik ist es uns Linken gelungen, Pflöcke einzuschlagen. Wir müssen als EU diesen Politikbereich der gemeinsamen Aufgabenstellung unterordnen, die UN-Nachhaltigkeitsziele bis zum Jahr 2030 zu erreichen. Diese 2015 vereinbarten und für alle Staaten gültigen 17 Ziele sollen der Sicherung einer nachhaltigen Entwicklung auf ökonomischer, sozialer sowie ökologischer Ebene dienen und reichen von der Beseitigung von Hunger und Armut über saubere Energie und Klimaschutz bis zu Bildung und Gleichberechtigung der Geschlechter – und natürlich Frieden. Um nur einige Beispiele zu nennen: Wir haben auf einen verantwortungsbewussten Umgang mit Konfliktmineralien gedrängt. Für den Zugriff auf Gold, Coltan, Wolfram oder Zinn wird von Banden und Warlords gemordet. Die Rohstoffe werden zu Geld gemacht, mit dem Geld werden neue Waffen gekauft, mit mehr Waffen weitere bewaffnete Konflikte angezettelt. Nach einem freiwilligen Selbstverzicht von Unternehmen auf den Handel mit Konfliktmineralien folgte 2015 eine verpflichtende Verordnung durch das Europaparlament. Ich konnte gegenüber der EU-Kommission durchsetzen, die Umsetzung der Verordnung ständig konsequent zu überprüfen. Auf den Handel mit kritischen Rohstoffen müssen strikt dieselben Regeln angewendet werden wie auf jenen mit Konfliktmineralien. Solche Fragen spielten ebenfalls in meinem im Juni 2022 mit überwältigender Mehrheit vom Europaparlament angenommen Bericht über die „Zukunft der Handels- und Investitionsbeziehungen der EU zu Afrika“ eine Rolle. Darin geht es primär um die Förderung des Handels innerhalb Afrikas. Der intra-afrikanische Handel benötigt Transportinfrastruktur, benötigt Kühlketten und Lagerhäuser, benötigt Kommunikationsnetze und Datenautobahnen. Und: Treibende Kraft der wirtschaftlichen Transformation Afrikas sind die Frauen und die Jugend, die wir als EU gezielt unterstützen sollten. Das sind Schwerpunkte, die in den „klassischen“ Freihandelsabkommen regelmäßig zu kurz kommen. Ich werde mich dafür einsetzen, dass sich das ändert. Daher setze ich mich auch nachdrücklich für die Verhandlungen über das „Verbindliche Abkommen der UN zu Wirtschaft und Menschenrechten“ ein. Die Kommission braucht ein Mandat, um mit starker Stimme bei den Verhandlungen im Menschenrechtsrat der Vereinten Nationen auftreten zu können. Transnationale Unternehmen müssen auf die Einhaltung der Menschenrechte und den Schutz der Umwelt verpflichtet werden. Dieser Grundsatz muss weltweit und rechtlich bindend durchgesetzt werden. Das heißt aber auch zugleich, über den Tellerrand heutiger Wirtschafts-, Wettbewerbs- und Industriepolitik im Digital-Zeitalter hinaus zu blicken. Deshalb war die große „Beyond Growth“-Konferenz im Europarlament, von 27 Abgeordneten aus 5 Fraktionen organisiert, der zweite und hoffentlich nicht nur für mich als unmittelbar Beteiligtem, wichtige politische Höhepunkt der Arbeit in der Legislatur 2019-2024. Wie ist unser heute weithin akzeptiertes Wissen um die Grenzen unseres Planeten produktiv zu machen für eine gesellschaftlich breit getragene Veränderung unserer Produktions- und Konsumtionsweise in einem fairen und solidarischen Umgang miteinander und in Solidarität mit den Völkern in anderen Regionen unserer Welt und unserer Umwelt. Sicher, das sind nur einige Punkte aus meiner Agenda. Aber ich weiß, dass Sie diese Themen – wie auch viele andere – sehr aufmerksam verfolgt haben. Dafür danke ich Ihnen – und halte Sie selbstverständlich weiter auf dem Laufenden.
Ihr Helmut Scholz |
Auf der Tagesordnung
Auch diese Woche ist reich gefüllt mit spannenden Veranstaltungen und Gremiensitzungen:
Montag, 13. November 2023Parlamentarische Versammlung Euronestzu den Themen "Soziale Unterstützung und Integration von minderjährigen Kriegsflüchtlingen in der EU und in der Region der Östlichen Partnerschaft" und "wirtschaftliche Auswirkungen des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine und die östliche Nachbarschaft"
Mittwoch, 15. November 2023Fraktionssitzung
Donnerstag, 16. November 2023gemeinsame Sitzung des Ausschusses für auswärtige Angelegenheiten und des Ausschusses für internationalen Handel zum Thema "Fortgeschrittenes Rahmenabkommen zwischen EU und Chile"
Freitag bis Sonntag, 17. bis 19. November 2023Bundesparteitag der Partei DIE LINKE. zur Verabschideung des Europawahlprogramms & Vertreter:innenversammlung zur Aufstellung der Liste zur Europawahl am 9. Juni 2024
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