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Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 120, 27. Oktober 2023
Liebe Leser:innen,
die in der letzten Woche nun nach vielen Ankündigungen vollzogene Trennung Sahra Wagenknechts von der Linkspartei mit der Absicht ein anderes Parteiprojekt neben der LINKEn zu entwickeln, ist gesellschaftlich unverantwortlich und einschneidend für die progressiven demokratischen Kräfte in unserem Land. Den Kommentaren von Martin Schirdewan, Jan Korte und vielen anderen bundespolitisch Verantwortlichen aus unserer Partei und der Bundestagsfraktion möchte und muss ich gar nicht viel hinzufügen. Nach der Abkehr Wagenknechts & Co vom Gründungskonsens unserer Partei und den viel zu lange geduldeten innerparteilichen Auseinandersetzungen ist diese Trennung allerdings auch folgerichtig. Sie schafft endlich klare Verhältnisse für und mit der Partei DIE LINKE. – vor allem aber für die Öffentlichkeit, die zu Recht fragt, wofür DIE LINKE. in Deutschland steht. Nach dem Parteiaustritt von Sahra Wagenknecht, die sich schon in der PDS – damals noch als Gesicht der kommunistischen Plattform – als Antipode zu Bisky und Gysi verstand und den neun weiteren Bundestagsabgeordneten und der Gründung des Vereins BSW („Bündnis Sahra Wagenknecht“) heißt es jetzt für unsere Partei DIE LINKE., wieder deutlich die eigenen Angebote für die anstehenden gesellschaftlichen Umbrüche in die öffentliche Debatte zu bringen und Politik für und vor allem mit den Menschen zu gestalten. Denn deutliche Unterschiede in der politischen Wahrnehmung und wenn man so will auch programmatischen Ausrichtung sind zu erkennen – zumindest, wenn man sich anschaut, was das Bündnis am vergangenen Montag als zukünftig beabsichtigte inhaltliche Ausrichtung präsentierte. Ich greife als Europaabgeordneter der Linksfraktion nur das Beispiel EU-Politik heraus. Hierzu verkündete BSW, die künftige Partei werde zur Europawahl am 9. Juni 2024 mit der Forderung antreten, dass Europa nur zusammenwachsen könne, wenn mehr Entscheidungskompetenz auf die nationalstaatliche Ebene zurückverlagert werde und der EU-Kommission „die derzeitige Machtkonzentration“ genommen werde. Sahra Wagenknecht hätte es besser wissen müssen, schließlich war sie selbst einst Europaabgeordnete für DIE LINKE: In der Europäischen Union hat zwar die Kommission das alleinige Initiativrecht bei der Gesetzgebung und gibt die politischen Leitlinien vor, aber die Ko-Gesetzgeber – Rat und Parlament der EU – treffen die endgültigen Entscheidungen in allen der EU übertragenen Kompetenzbereichen. Zugleich hat sich der EU-Rat seit der Finanz- und Wirtschaftskrise 2009-2011 immer mehr der intergouvernementalen Entscheidungsmethode zugewandt. Das heißt, die Mitgliedstaaten handeln Kompromisse in vielen wichtigen Bereichen untereinander aus, also am Europäischen Parlament, aber auch vielen nationalen Parlamenten vorbei. Also genau das, was jetzt vom BSW als Lösungsansatz daherkommt. Ja, der Rat kann das entsprechend der Verträge zwar, aber es höhlt demokratische Grundsätze aus. Denn es blendet die Mitsprache der direkt gewählten Abgeordneten weitestgehend aus – und gerade das Europäische Parlament ist ja quasi per Amt zuständig für die transnationale Regulierungsebene. Aber vermutlich passt Populismus doch mehr ins Programm von BSW als die tatsächliche Faktenlage. Was ich hier aber auch mit aller Deutlichkeit in Bezug auf die europapolitischen Positionen des neuen Bündnisses festhalten möchte: Die Forderung nach einem „Europa der souveränen Nationalstaaten“ gleicht der damaligen Position der AfD bei ihrem Antritt zu den Europawahlen 2014 und auch deren jetziger Programmatik. Zum Vergleich hier nur zwei Sätze aus der Präambel des aktuellen EU-Wahlprogramms der AfD: „Wir streben daher die geordnete Auflösung der EU an und wollen statt ihrer eine neue europäische Wirtschafts- und Interessengemeinschaft gründen, einen Bund europäischer Nationen." Beschworen wird die "Idee eines Europas der Vaterländer, einer europäischen Gemeinschaft souveräner, demokratischer Staaten, die zum Wohle ihrer Bürger in all jenen Angelegenheiten zusammenwirken, die gemeinsam besser erledigt werden können." Diese Parallele von BSW zur Rechten finde ich alarmierend – zumal keine wirklichen Vorschläge grenzüberschreitender EU-weiter und inklusiver Kooperation zur Lösung der vor uns allen stehenden Aufgaben des sozial-ökologischen Strukturwandels, demokratisch verankert und partizipativ ausgerichtet, angeboten werden. Wie gesagt, als LINKE sollten wir uns nicht an BSW abarbeiten, sondern müssen uns jetzt auf unsere Kernthemen und guten Politikangebote und deren Umsetzung konzentrieren aber auch die noch bestehenden Leerstellen in unserer eigenen Programmatik füllen. Bei einigen Themen fehlen konkrete Konzepte, und auch unser Grundsatzprogramm von 2011 muss überarbeitet werden. Die Welt hat sich seitdem gewandelt und wir sehen uns mit vielen wirtschaftlichen und politischen wie auch gesellschaftlichen Herausforderungen konfrontiert, die wohl nur mit mehr Solidarität, mit Offenheit und der Bereitschaft, mit vielen gesellschaftlichen Kräften zusammenzuarbeiten, inklusiv und nicht besserwisserisch durch eine kooperative Politik über Grenzen hinweg strukturell wie inhaltlich zu beantworten sind. In den anstehenden Europawahlkämpfen wollen und werden wir deutlich machen müssen, dass die anstehenden, z. T. notwendigerweise sehr grundlegenden Veränderungen heutiger Politik seitens der EU-Institutionen die Weiterentwicklung und Erweiterung demokratischer Beteiligung der Bürger:innen in allen 27 EU-Mitgliedstaaten und eine Vertiefung der Gemeinschaftsmethode als Regelfall erfordern. Zuvorderst heißt das, auch als LINKE. deutlich zu machen, dass wir als EU mehr sein wollen, als ein mehr oder weniger gut funktionierender Binnenmarkt, in dem ja der Fokus auf wirtschaftlichem Wettbewerb zugunsten der Durchsetzung der Interessen des Stärkeren zu Lasten der weniger starken liegt und Regulierungen im Sinne von sozialen und Umweltbelangen zurückgefahren werden soll: Neoliberale Grundlogik der europäischen ordnungspolitischen Interpretation von sozialer Marktwirtschaft bim 21. Jahrhundert durch die Exekutiven. Denn weder die EU noch Deutschland, Frankreich oder Polen werden in der globalen Auseinandersetzung bestehen. Wir brauchen eine Rückbesinnung auf die politische und wirtschaftliche Ausformung einer demokratischen, friedlichen, ökologischen und sozial gerechten EU, eine Gemeinschaft, die Grenzen abbaut, statt neue zu schaffen. So wie es in den Ideen von Spinelli und Rossi zum Ausdruck kam – vor über 80 Jahren. Die derzeitigen Krisen wie Klimakatastrophe, Energie, Ukraine oder die Problematik der Geflüchtete lassen sich nicht auf nationalstaatlicher Ebene lösen und auch nicht durch Abschottung. Diese Aufgaben stehen auch auf unserer „To-do-Liste“ der LINKE-Delegation im Europaparlament für die nächsten Monate. In dieser Woche allerdings – eine sogenannte „grüne Woche“ im Parlamentskalender, in der an den Parlamentsstandorten keine Sitzungen stattfinden. Diese Woche wird deshalb auch für internationale Termine genutzt. Ich selbst reise mit einer Delegation des Verfassungsausschusses in die USA und nach Kanada. Wie stellt sich die gesellschaftliche Verfasstheit der US-Demokratie ein Jahr vor den Präsidentschaftswahlen dar? Welche Aufgaben sehen politische Akteure für die Überwindung der immer deutlicher zu Tage tretenden gravierenden Spaltung der US-amerikanischen Gesellschaft? Und ganz sicher wird es intensive Meinungsaustausche darüber geben, wie die USA, Kanada und die EU zur Lösung der leider immer weiter eskalierenden Konflikte in der Welt – Stichworte Nahost, Ukraine, aber auch Berg-Karabach oder Jemen – beitragen können und müssen. Ich hatte an dieser Stelle ja bereits mehrfach betont, dass ich insbesondere auch die EU in der Pflicht sehe, ihre sogenannte „soft power“, also das diplomatische, vermittelnde Handeln, einzubringen. Parallel reist der Handelsausschuss – die Linksfraktion hat in der 7-köpfigen Delegation des Ausschusses leider keinen Sitz erhalten – nach Kalifornien, ins Silicon Valley. Denn dieser Ausschuss ist zentral damit befasst, die weitere Entwicklung des Handels- und Technologierates (TTC) der beiden Blöcke kritisch zu begleiten. Dabei handelt es sich um ein Projekt der Kommission und der US-Regierung, anstehende Herausforderungen aus der Digitalisierung in einem transatlantischen Bündnis zu bewältigen. Ich sage ganz klar: Das darf nicht ohne parlamentarische Begleitung und Kontrolle und Transparenz in unsere Gesellschaften hinein erfolgen. Auf dem Arbeitsprogramm steht unter anderem ein Besuch der Tesla-Fabrik in Fremont. Dabei wird es um die Widerstandsfähigkeit von Liefer- und Wertschöpfungsketten gehen, um den Zugang zu kritischen Rohmaterialien und die Situation und Zukunftsfähigkeit der Automobilindustrie in den USA und der EU. Auch ein Abstecher in die Zentrale des Computergiganten Apple ist geplant. Bei beiden Delegationsreisen sind sehr kritische Fragen zu Marktbeherrschung, zu Datenschutz und nicht zuletzt zur Einhaltung der Rechte von Beschäftigten sowohl in den USA als auch bei ihren Zulieferfirmen weltweit zu stellen, zumal mit dem IRA (Inflation Reduction Act) die Biden-Administration bewusst auf Förderung und Subventionierung aller in den USA ansässigen Firmen mit Blick auf Arbeitsplätze und Umweltschutz setzt -auch gegenüber dem europäischen Handels- und Wirtschaftspartner EU. Zudem sind verschiedenste Treffen mit Politiker:innen anberaumt, zum Beispiel mit der Vizegouverneurin von Kalifornien. Und nicht zuletzt werde ich mich mit linken Politiker:innen in den USA treffen. Ich bin sehr gespannt auf deren Einschätzung der aktuellen Situation in den Vereinigten Staaten und darauf, welche Chancen sie für progressive Kräfte bei den Wahlen sehen. Ich werde Sie darüber informieren. Ihr Helmut Scholz |
Auf der Tagesordnung
Diese Woche finden im Europäischen Parlament keine Sitzungen statt. Die Abgeordneten sind mit ihren Fachausschüssen oder Länderdelegationen unterwegs, um sich mit internationalen Partnern auszutauschen oder nehmen Termine in ihren Wahlkreisen wahr. Trotzdem möchte ich Ihnen hier einige aus meiner Sicht spannende Veranstaltungen empfehlen:
Mittwoch, 1. November 2023Ukraine - ein EU-Beitrittskandidat mit Zukunft?
Freitag, 3. November 2023Die große Freiheit ist es nicht geworden
Samstag, 4. November 2023Gespräche über die Wendezeit
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