|
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 116, 29. September 2023
Liebe Leser:innen,
von Montag bis Donnerstag dieser Woche kommt das Europäische Parlament zu seiner ersten Plenartagungswoche im Oktober in Straßburg zusammen. Angesichts des Kalendereintrags am 3. Oktober bitte nicht wundern, dass ich wieder einmal die Zuverlässigkeit der Deutschen Bahn austeste, denn für den Parlamentarischen Arbeitskalender der EU-Institutionen gilt nur der belgische Nationalfeiertag als arbeitsfrei. Der Tag der Deutschen Einheit ist deshalb für Abgeordnete und Mitarbeiter:innen ein normaler Arbeitstag. Übrigens hatten wir mehrfach eingebracht, den 9. Mai als Europatag (gekoppelt an den Tag der Befreiung vom Hitlerfaschismus, der in einigen Ländern bereits am 8. Mai als Feiertag begangen wird) europaweit als Feiertag zu begehen und auch als EU-weiten Wahltag festzulegen. Die Verhandlungen über die Weiterentwicklung des Europawahlrechts zwischen Parlament, Rat und Kommission ziehen sich allerdings weiter hin. Angesichts des Auftriebs rechtsextremer Kräfte und Parteien nicht nur in Deutschland, sondern in zahlreichen EU-Ländern, würde ich diesen Schritt allerdings begrüßen. Diese Entwicklung bereitet mir große Sorge und bestärkt meine Überzeugung, dass wir hier noch entschiedener gegensteuern müssen. Dies wird, wie Sie vielleicht wissen, ein Schwerpunkt des Europawahlkampfs der LINKEN sein. Denn es ist ganz klar: Wir müssen verhindern, dass rechtsextreme und rechtspopulistische Kräfte auch über das Europäische Parlament EU-Gesetzgebung maßgeblich beeinflussen können. Diese Herausforderung müssen aller demokratischen Kräfte annehmen. Denn die Verschiebungen der Kräfteverhältnisse passieren nicht einfach so; vielmehr werden sie langfristig und zielgerichtet vorangetrieben. Aber zurück zur kommenden Plenarwoche. Die Sitzungstage in Straßburg sind wie immer vollgepackt mit Debatten und Abstimmungen. So stehen am deutschen Feiertag gleich zwei wichtige Themen auf der Tagesordnung. Dabei geht es einerseits um den Beitrittsprozess Moldaus: Wie wollen Kommission und Rat den Kandidatenstatus der zwischen Rumänien und der Ukraine liegenden Republik auf EU-Mitgliedschaft nun in konkrete Handlungsschritte übersetzen? Denn als Zielmarke ist von den Präsident:innen aller drei Institutionen das Jahr 2030 klar benannt worden. Welche Aufgaben werden im Rahmen dieses Prozesses auf die Menschen in diesem Land zukommen, das trotz wirtschaftlicher Schwäche und der Kriegsgefahr für das Land selbst besonders großzügig vor der russischen Aggression geflüchtete Menschen aus der Ukraine willkommen hieß? Denn gemessen an der eigenen Einwohnerzahl wurden hier im europäischen Vergleich die meisten Flüchtlinge aufgenommen. Daneben wird es darum gehen, welche Hürden der EU-Erweiterung um Moldau im Weg stehen könnten – man denke nur an den derzeit eingefrorenen Transnistrien-Konflikt – und natürlich auch, welche Reformen die moldauische Regierung umsetzen muss, bevor die blau-gelb-rote Flagge des Landes tatsächlich in Brüssel gehisst werden kann. Die Bürger:innen Moldaus wünschen sich einen EU-Beitritt, obgleich schon heute fast 70 Prozent der westlich des Dnjestr einen rumänischen Pass besitzen. Wie kann die demokratische Mitsprache der Bevölkerung in dem nun anstehenden Prozess gesichert werden? Wie kann der Prozess transparent gestalten werden, damit die Bürger:innen wissen, was die Übernahme des Besitzstandes der EU konkret bedeutet? Bislang konnte die gegenwärtig amtierende Regierung in Moldau unter Ministerpräsident Dorin Recean und Präsidentin Maia Sandu auf das Entgegenkommen der EU zählen. EU-Ratspräsident Charles Michel hatte im Frühjahr den 2,5 Millionen Moldauer:innen Hoffnung auf einen Beitritt im Rekordtempo gemacht, beim Juni-Gipfel der Staats- und Regierungschefs der EU wurde Moldau als Beitrittskandidat bestätigt. Tatsächlich hatte das Land seinen Antrag auf EU-Mitgliedschaft aber erst am 3. März 2022 eingereicht – unmittelbar, nachdem russische Panzer in der Ukraine einrollten. Ich finde es richtig, Moldau einen Weg in die EU zu öffnen; dennoch ist dieser noch weit, und die Aufgaben gewaltig. Von umfassenden Justizreformen, der Bekämpfung von Korruption und oligarchischen Wirtschaftsstrukturen bis zum Schutz von Minderheiten, Umsetzung der Grundrechtecharta der EU, Medien- und Versammlungsfreiheit und -vielfalt ist noch viel zu tun. Den Zusammenhalt des Landes sichern, die Kopenhagener Kriterien erfüllen und eine zufriedenstellende und zukunftsfeste Lösung für den Transnistrien-Konflikt finden – diese enormen Aufgaben sind im Interesse beider Seiten nun zu bewältigen. Wenn Sie Interesse haben, schauen Sie einfach online in die Debatte am Dienstagnachmittag. Ebenfalls am 3. Oktober debattieren wir im Plenum über die längst überfällige Überarbeitung des Mehrjährigen Finanzrahmens der EU. Angesichts der vielfältigen Krisen – Corona, Ukraine-Krieg, Klimanotstand und die jüngsten Wetterkatastrophen, Explosion der Energie- und Lebenshaltungskosten – und den daraus folgenden sozialen Notständen für weite Teile der Bevölkerung gibt es dafür keine vernünftige Alternative. Für zusätzliche EU-Initiativen für grüne, digitale und sozial ausgewogene Industriepolitik, für Hilfe beim Wiederaufbau der Ukraine, humanitäre Hilfe insgesamt sowie für die gestiegenen Zinsrückzahlungskosten für den Corona-Wiederaufbaufonds muss zusätzliches Geld zur Verfügung gestellt werden. Leider ist der entsprechende Kommissionsvorschlag viel zu zaghaft gerade im sozialen Bereich, und zu stark auf reine Wettbewerbsfragen, Verteidigungslogik und Abschottung der Grenzen fokussiert. Es wäre verlogen, wenn EU-Mitgliedstaaten weiterhin multinationale Konzerne trotz Übergewinnen subventionieren, massive Preissteigerungen durch eine „Gewinnflation“ akzeptieren und gleichzeitig behaupten, es sei kein Geld vorhanden, um wenigstens dringendste Lücken im EU-Haushalt zu stopfen. Bereits heute abend findet die Debatte über ein handelspolitisches „Schutzinstrument“, das ganz im Zeichen zunehmender geopolitischer Spannungen steht. Ziel ist es, die EU in die Lage zu versetzen, auf als „Zwang“ wahrgenommene, unmittelbare Auswirkungen wirtschaftspolitischer Strategien Dritter zu reagieren und so äußeren Druck auf politische Entscheidungen der Mitgliedstaaten oder EU-Ebene zu verhindern. Das Gesetz soll es der EU ermöglichen, auf solche Zwänge mit handelspolitischen Maßnahmen wie der Einführung von Zöllen, Handelsbeschränkungen oder der Begrenzung von Investitionen zu reagieren. Anzumerken wäre, dass es zwar das Ziel dieses Instruments ist, schon durch seine Existenz, wirtschaftlichen Zwängen vorzubeugen – so sind die genannten Maßnahmen nur als Ultima Ratio gedacht, sollten Verhandlungen scheitern –, aber natürlich ist seine Nutzung durchaus denkbar. Damit wird durch diesen Mechanismus eine Anpassung der EU-Handelspolitik an die vorherrschende Geopolitisierung des Handels vorgenommen. Aus unserer Sicht ist es bedenklich, dass dieses Instrument nicht neutral konzipiert daherkommt. Entgegen ursprünglichen Intentionen wird es nichts an den extraterritorialen Sanktionen seitens der USA ändern, stattdessen ist als Adressat hinsichtlich seines möglichen Einsatzes der Handelspartner China mit seinem wachsenden wirtschaftlichen Einfluss weltweit offensichtlich. Auch ist es möglich, dass das Instrument gegen kleinere Staaten zur Anwendung kommt, die für die EU wirtschaftlich weniger wichtig sind. Damit ist klar zu sagen: diese und weitere horizontale, im weitesten Sinne neuen handelspolitischen Gesetzgebungen geraten auch zu Werkzeugen einer offensiven Umsetzung wirtschafts- und industriepolitischer Strategien, bis hin zur Untersetzung des Konzepts hin zur „Offenen Strategischen Autonomie“, ohne dass sie bereits an klaren Prinzipien, Kriterien und einzelnen Maßnahmen gemessen werden könnte. Ich denke: In der Handelspolitik darf nicht mit zweierlei Maß gemessen werden. Und wie viele Schwellenländer oder auch am die am wenigsten entwickelten Staaten darauf reagieren werden, wie es umgesetzt wird, ist unklar. Aus den genannten Gründen stehe ich diesem Gesetz skeptisch gegenüber. Am Mittwoch werden zudem Rat und EU-Kommission Statements dazu abgeben, warum neue Handelsabkommen der Weg zu nachhaltigem Wachstum, mehr Wettbewerbsfähigkeit und strategischer Autonomie sein sollen. Ein hochwichtiger Punkt, denn hier wird es interessant, ob und wie auch auf die kontroversen Verhandlungen rund um das Mercosur-Abkommen eingegangen wird und welche Lehren daraus für die Zukunft gezogen wurden. Darüber werde ich Sie sicher in der nächsten Woche informieren. Ihr Helmut Scholz |
Auf der Tagesordnung
Diese Woche kommen die Mitglieder des Europäischen Parlaments zur Plenartagung in Straßburg zusammen. Alle Debatten werden live übertragen. Hier einige Highlights aus meiner Sicht:
Montag, 2. Oktober 2023Wirtschaftlicher Zwang durch Drittländer
Dienstag, 3. Oktober 2023Halbzeitüberprüfung des Mehrjährigen Finanzrahmens
Plenartagung des EP - Schwerpunkte der Linken
Handelsbeziehungen zwischen der EU und China
Europäisches Medienfreiheitsgesetz
Mittwoch, 4. Oktober 2023Aktuelle Stunde: Menschenwürdiger Wohnraum für alle
Allgemeine Zollpräferenzen
|
Büro in Brüssel Büro des Europaabgeordneten Helmut Scholz in Berlin Europa- und Bürgerbüro Rostock Europa- und Bürgerbüro Schwerin Europa-Wahlkreisbüro Frankfurt (Oder) Europäisches Regionalbüro Spremberg |
Wenn Sie diesen Newsletter nicht weiter beziehen wollen, können Sie hier ihre E-Mail-Adresse aus dem Verteiler austragen