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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 114, 15. September 2023
Liebe Leser:innen,

eine ereignisreiche Plenarwoche liegt hinter uns. Das zentrale Ereignis der vier Tage in Straßburg war sicher die Rede von EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen zur Lage der Union.

Ich sage es ganz offen: Was die deutsche CDU-Politikerin vor dem Plenum vorgetragen hat, war schon enttäuschend. Ursula von der Leyen hatte keine überzeugende Vision für die soziale und zukunftsfeste Weiterentwicklung der Europäischen Union zu bieten. Sie fand kaum Worte zur dramatischen sozialen Lage von Millionen Menschen in Europa; keine Antwort auf die Frage, wie der Energiekrise und steigenden Lebenshaltungskosten entgegnet werden soll und auch kein Vorstoß, die sogenannte „soft power“ der EU zur Beendigung des Blutvergießens in der Ukraine in die Waagschale zu werfen.

Eine Kritik am Rechtsdrall in mehreren EU-Mitgliedsstaaten fehlte gänzlich – und schon gar nicht am Schulterschluss zwischen Konservativen und Rechten. Was wir in der Bundesrepublik gerade in einigen Ländern sehen – Stichwort die gemeinsame Abstimmung von CDU und AfD im Thüringer Landtag zur Grunderwerbssteuer – droht zur Blaupause auch für die europäische Ebene und das Europaparlament zu werden. Einer solchen gefährlichen Entwicklung wird sich Die Linke mit aller Kraft entgegenstellen.

Stattdessen holte Ursula von der Leyen die altbekannten neoliberalen Rezepte aus der Schublade: So hat sie eine neue Untersuchung staatlicher Subventionen für chinesische E-Autos angekündigt. Dieser erneut verschärfte Konfrontationskurs der EU-Kommission gegen China ist jedoch ein Irrweg, der uns beim dringlichen Kampf gegen die Klimaerwärmung wertvolle Zeit kostet.

Ja, China investiert in Zukunftstechnologien und grüne Industriezweige. Und dafür gibt es gute Gründe. Denn mit der Klimaerwärmung, aber auch globaler Armut und politischer Destabilisierung steht die Menschheit heute vor Herausforderungen, die nie größer waren. Und auch das sogenannte Anti-Inflations-Gesetz der USA ist ein solcher Schritt in die richtige Richtung, nämlich ein Aufbrechen der bisherigen ordnungspolitischen Wirtschaftsstrategien. Wie also sollte die eigentliche Antwort der EU gemeinschaftlich erarbeitet und ausgestaltet werden? Die konstruktive Antwort der „geopolitischen Kommission“ darauf steht weiter aus.

Ich denke, wir sollten den neoliberalen Zopf der Subventionsverbote endlich abschneiden: Wenn staatliche Unterstützung Verbraucherinnen und Verbrauchern den Zugang zu grüner Technologie erleichtert, den sozial-ökologischen Umbau unserer Industrien und den Erhalt und die Schaffung von Arbeitsplätzen ohne weitere Ressourcenüberdehnung ermöglicht, dann sollten wir Länder, die den grünen Wandel vorantreiben, nicht bestrafen. Vielmehr sollten diese Transformationen nicht im Gegeneinander, sondern in Zusammenwirken und Zusammenführen von Potentialen rund um unseren Globus realisiert werden.

Während von der Leyen also die Chance einer deutlichen Positionierung vor den Europawahlen 2024 verpasste, wird eine andere Entscheidung die Arbeit des Europaparlaments nachhaltig prägen: Ebenfalls am Mittwoch hat eine deutliche Parlamentsmehrheit Änderungen der Geschäftsordnung des Parlaments zur Stärkung von Integrität, Unabhängigkeit und Rechenschaftspflicht zugestimmt. Hintergrund ist das „Katar-Gate“ – ich habe Sie wiederholt über diesen Korruptionsskandal im Parlament informiert, bei dem unter anderem aus Katar große Geldsummen an Abgeordnete und Mitarbeiter:innen geflossen sind, um so Einfluss auf Entscheidungen zu nehmen. Und viele der Vorschläge, die der Ausschuss für konstitutionelle Fragen zur Aufarbeitung des „Katar-Gate“ im Plenum zur Abstimmung vorgelegt hat, tragen eine linke Handschrift.

Der Korruptionsskandal hatte dem Ansehen des Parlaments massiv geschadet. Deshalb verpflichteten wir Abgeordnete uns im Januar dazu, den von Parlamentspräsidentin Metsola vorgeschlagenen und vom Plenum bestätigten 14-Punkte-Plan so bald wie möglich in konkrete Maßnahmen umzusetzen, einschließlich der Überarbeitung der Geschäftsordnung. Der nun beschlossene Bericht zur deren Reform beharrt auf strengeren Regeln, die für eine verbesserte Transparenz der parlamentarischen Arbeit und ein wirksameres Abgeordnetenstatut (Code of Conduct) sorgen sollen. Dazu gehört etwa die Offenlegung aller Treffen mit Lobbyvertreter:innen und eine verpflichtende Vermögenserklärung der Abgeordneten.

Insgesamt ist die Verabschiedung dieses Berichts ein wichtiger Schritt – aber zugleich auch das notwendige Minimum, das gegen die Positionen vieler MdEP von Rechts durchzusetzen war. So wurde der von unserer Linksfraktion eingebrachte Änderungsantrag auf umfassende Informationspflichten und ein Verbot bezahlter „Nebentätigkeiten“ abgelehnt.

Ebenfalls am Mittwoch habe ich die Vorschläge des Europäischen Parlaments zur Änderung der EU-Verträge auf einer fraktionsübergreifenden Pressekonferenz vorgestellt. Der Ausschuss für konstitutionelle Angelegenheiten befasste sich am Donnerstag in einer außerordentlichen Sitzung mit dem Berichtsentwurf. Wenn Sie sich für die konkreten Vorschläge interessieren, schauen Sie einfach in die Video-Aufzeichnung des Pressebriefings hinein.

Damit sind wir beim Thema Wahlkampf. Am Montag wurde der Entwurf des Wahlprogramms der LINKEN für die Europawahl im kommenden Jahr vorgestellt. Und der ist praktisch das Kontrastprogramm zur Rede von Kommissionspräsidentin von der Leyen. Der Parteivorstand DIE LINKE. rückt die soziale Frage, die Frage der Umverteilung in den Mittelpunkt. Denn angesichts der aktuellen Zahlen zur sozialen Realität ist Handeln gefragt: In der reichen EU sind 95 Millionen Bürgerinnen und Bürger von Armut betroffen oder davon bedroht. Das wollen wir als Linke nicht hinnehmen.

Ein weiteres zentrales Ziel: der ökologische Umbau der Wirtschaft in Europa, der sozial erfolgen muss, sprich mit einer Umgestaltung anstelle einer Beseitigung von Arbeitsplätzen. Dazu gehört, sich in allen Mitgliedstaaten der Frage zu stellen was getan werden muss, damit wir heute und morgen Entscheidungen treffen, um mehr zu sein als ein Binnenmarkt, eine Zollunion, wie wir industriepolitische und gesamtvolkswirtschaftliche Herausforderungen gemeinschaftlich und solidarisch in der EU27 bewältigen können.

Ganz klar ist auch, dass wir uns der Aufrüstung, der Militarisierung der EU entschieden entgegenstellen, eine Gemeinsame Außenpolitik befördern werden, die sich nachdrücklich auf friedliche Konfliktbeilegung und eine neue, faire internationale Sicherheitsarchitektur orientiert. Es gilt weiter klare Kante gegen rechts zu zeigen. Im November werden wir auf dem Europaparteitag das Wahlprogramm erneut diskutieren und abschließend beschließen und die endgültige Liste der Kandidat:innen unserer Partei für die Europawahl am 9. Juni 2024 aufstellen.

Die Komplexität heutiger Europapolitik, die Herausforderungen der Europawahlen und aktuelle politische Entwicklungen in den EU-Mitgliedstaaten werden auch bei einer Gesprächsrunde mit Akteur:innen der „Politischen Berichte“ und ihrer Gäste am Freitag im Mittelpunkt einer öffentlichen Diskussion stehen, die von Eva Detscher moderiert wird. Und ich freue mich, dass ich das nicht alleine tun muss, sondern Verstärkung durch Frederike Gronde-Brunner aus meinem Team erhalte, die bekanntlich für die Bundesvertreter:innen-Versammlung um einen guten Listenplatz der LINKEN kandidiert.

Auch parlamentarisch wird es wieder mehr als lebhaft: eine Ausschusswoche liegt vor uns. Unter anderem im Ausschuss für konstitutionelle Fragen, wo wir uns mit dem Zustand der Grundrechte in der EU sowie Vertragsverletzungsfragen beschäftigen werden. Meine Meinung ist: Die Effektivität von Wirksamkeit von Vertragsverletzungsverfahren müssen erhöht werden. Und dazu gehört, dass der Grundsatz des Vorrangs des EU-Rechts in allen Mitgliedstaaten anerkannt wird.

Im Handelsausschuss (INTA) stehen unter anderem die Zwangslizenzen zur Debatte. Ich selbst bin Berichterstatter für die legislative Stellungnahme des INTA. Dabei geht es darum, dass in Krisenzeiten Patente für medizinische Produkte vorübergehend an eine andere Firma vergeben werden können – ohne, dass die Firma im Besitz des Patents dem zustimmen muss.

Sehr aktuell also gerade in Bezug auf Konsequenzen aus dem Agieren auf nationaler wie auf EU-Ebene hinsichtlich der europäischen und weltweiten Pandemie-Bekämpfung. Ganz konkret geht es um zweierlei: Einerseits, dass die Kommission die Autorität bekommt, Zwangslizenzen zu vergeben. Aktuell sind diese noch auf das Gebiet einzelner Mitgliedstaaten beschränkt und werden auch von den jeweiligen nationalen Behörden vergeben. Da aber Pandemien grenzübergreifend sind, ist es nur sinnvoll, dass mit unionsweiten Zwangslizenzen produzierten Produkten auch auf dem Binnenmarkt zirkulieren können – das ist das zweite Ziel des Kommissionsvorschlags.

Dies sind nur einige der zahlreichen Themen, mit denen wir uns diese Woche im Ausschuss befassen. Auch eine Abstimmung steht dabei an, nämlich zum Allgemeinen Präferenzsystem für einkommensschwache Länder. In meinem nächsten Newsletter werde ich Sie ausführlicher informieren.

Ihr

Helmut Scholz

Auf der Tagesordnung

In der kommenden Woche kommen die EU-Abgeordneten in ihren Fachausschüssen zusammen. Alle Sitzungen werden live übertragen. Hier finden Sie die Tagesordnung des Handelsausschusses. Die Agenda des Ausschusses für konstitutionelle Angelegenheiten können Sie hier einsehen.

 

Montag, 18. September 2023

Abschluss des Freihandelsabkommens EU-Neuseeland

 

Dienstag, 19. September 2023

Handelspolitische Schwerpunkte der spanischen Ratspräsidentschaft

Vergabe von Zwangslizenzen in Krisenzeiten

 

Mittwoch, 20. September 2023

„Auf dem Weg zur Europawahl 2024“ - Öffentliche Anhörung des Konstitutionellen Ausschusses

Umsetzung der Vertragsbestimmungen zur EU-Bürgerschaft - Öffentliche Anhörung des Konstitutionellen Ausschusses

 

Freitag, 22. September 2023

Europa vor den Wahlen - Wie stellt sich die Die Linke und die linke Parteienfamilie auf?

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