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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 110, 21. Juli 2023
Liebe Leser*innen,

diese Woche zeigte uns, wohin Brüssel in den kommenden Monaten und darüber hinaus blicken wird: gen Süden, genauer gesagt, in Richtung Lateinamerika und Karibik. Der Gipfel der EU und des CELAC (Gemeinschaft der Lateinamerikanischen und Karibischen Staaten) versammelte zwei Tage lang dutzende Staats- und Regierungschef*innen der beiden Gemeinschaften zu Beratungen in Brüssel. Es war das erste hochrangige Treffen dieser Art nach acht Jahren Gipfelpause.

Woher rührt diese plötzlich erscheinende „Wiederentdeckung“ der lateinamerikanischen Partner? Zum einen hat der EU-Rat im Juli einen neuen Vorsitz bekommen: Für sechs Monate beeinflusst nun Spanien als erstes Land der 18-monatigen Trio-Präsidentschaft der EU (ihm folgen dann 2024 Belgien und Ungarn) maßgeblich, welche Schwerpunkte die EU-Institutionen setzen. Und im Mittelpunkt des Arbeitsprogramms  stehen erstens die „Stärkung der globalen Wettbewerbsfähigkeit der EU durch die Stärkung der industriellen Basis Europas“, zweitens „die Gewährleistung eines fairen, gerechten und integrativen Übergangs  durch die Stärkung der sozialen Dimension Europas“, drittens eine „Stärkung der internationalen Partnerschaften, der multilateralen Zusammenarbeit und der Sicherheit in all ihren Dimensionen“ und viertens „die Verwirklichung eines klimaneutralen, grünen, fairen und sozialen Europas“. Da erscheint es nun dann nicht so sehr überraschend, dass Spanien und die anderen EU27 insbesondere die Brücken über den Atlantik renovieren und verstärkt nutzen wollen, um dringend notwendige Rohstoffe auch für die Umsetzung eigener Zielsetzungen des Green Deals und des „Fit for 55“-Programms zu erlangen. Nicht zu vergessen, dass dies auch im geopolitischen und geowirtschaftlichen Machtgerangel als Aufholprozess gegenüber den USA und China als wichtigen Akteuren in Lateinamerika verstanden wird. Für spanische Unternehmen ist nicht zuletzt die lateinamerikanische Region ein wichtiger Markt und Investitionsstandort, weshalb das Land seit langem große Hoffnungen in den Abschluss weiterer Freihandelsabkommen, etwa mit Mexiko, Chile und vor allem mit dem Mercosur-Block aus Brasilien, Argentinien, Uruguay und Paraguay befürwortet und die eigenen Wettbewerbsfähigkeit im EU-Binnenmarkt erhöhen will.

Dass die EU-Kommission alles daran setzt, die Abkommen bis zum Ende des Jahres zu unterzeichnen und auch im Eilverfahren parlamentarisch absegnen zu lassen, hat deshalb wohl vor allem geopolitische Hauptgründe. Denn unter vielen Ökonom*innen herrscht durchaus übereinstimmende Skepsis darüber, dass etwa ein Abkommen mit den Mercosur-Ländern kaum wirtschaftliche Vorteile für die EU27 bringen wird. Dem stehen andererseits auch Risiken für Landwirt*innen in Europa und kleine und mittlere Unternehmen und Industriebetriebe in Südamerika entgegen. Ich werde in meinen kommenden Newslettern sicher auf den ein oder anderen Aspekt zurückkommen, denn der Gipfel hat einen zumindest absichtsvollen Fahrplan 2023-25 für die Intensivierung der bi-regionalen Zusammenarbeit zwischen der EU und dem CELAC vorgelegt.

Aber es ging beim Gipfel weit über diese sehr konkret handelspolitischen Fragestellungen hinaus. Und ich halte die Aussage unter Punkt 8 der Gipfelerkläung für überaus bemerkenswert als künftigem, stets zu hinterfragendem Richtwert, dass „Rechtsstaatlichkeit und Menschenrechte – seien sie bürgerlicher, politischer, wirtschaftlicher, sozialer oder kultureller Art, einschließlich des Rechts auf Entwicklung, die alle als universell, unteilbar und voneinander abhängig verstanden werden – Schlüsselprinzipien unseres erneuerten Bündnisses bleiben. In diesem Zusammenhang muss darauf geachtet werden, die Bedeutung der Gewährleistung von Universalität, Objektivität und Nicht-Auswählbarkeit bei der Betrachtung von Menschenrechtsfragen sowie der Beseitigung von Doppelmoral und Politischer Instrumentalisierung anzuerkennen.“ Die Gipfelteilnehmer-Staaten haben sich ferner auch der Bekämpfung vielfältiger und sich überschneidender Formen von Diskriminierung und geschlechtsspezifischer Gewalt verpflichtet, sowie der Förderung grundlegender Arbeitsprinzipien und -rechte sowie der IAO-Kernarbeitsnormen und -Übereinkommen für menschenwürdige Arbeit für alle, der Gewährleistung von Geschlechtergleichheit, der vollständigen und gleichberechtigten Vertretung und Beteiligung aller Frauen und Mädchen an Entscheidungsprozessen, der Rechte indigener Völker gemäß der UN-Erklärung, der Rechte des Kindes, der Rechte von Personen in gefährdeten Situationen und Menschen afrikanischer Herkunft. Punkte, die ich gerade auch im Zusammenhang mit den Nachhaltigkeitskapiteln und der Notwendigkeit verbindlicher, und auch juristisch durchsetzbarer Standards für wichtig halte. Aber da gilt es dann ab sofort genau hinzuschauen, wie dies im Alltag realisiert wird. Denn Absicht und Realität klaffen leider noch viel zu weit auseinander. Und es bleibt gewiss eine Herkules-Aufgabe für alle beteiligten Seiten, aber gut, dass der Gipfel angesichts des bevorstehenden Halbzeit-Treffens der UNO im September zur Umsetzung der 17 UN-Nachhaltigkeitsziele gerade dies so deutlich herausstellte. Hohe Auflagen also auch für die EU und ihre Mitgliedstaaten.

Die Befürworter*innen einer alternativen, auf sozialen Fortschritt und ökologische Gerechtigkeit abzielenden Handelspolitik haben diese Woche ebenfalls genutzt, um sich Gehör zu verschaffen. Und vielleicht haben die vielen Debatten und Forderungen an die „Politik“ des Gipfels auch dessen Positionierung beeinflusst. Denn einige Präsident*innen vom lateinamerikanischen Kontinent hatten am Dienstagabend auch den Weg ins Europa-Parlament zur Abschlussveranstaltung des „Gipfel der Völker“ gefunden; schade, dass niemand von den EU-Staats- und Regierungschef*innen gleichermaßen Engagement zeigte. Bereits am Montag dieser zu Ende gehenden Woche hatte ich eine Konferenz dutzender zivilgesellschaftlicher Gruppen, wie etwa Via Campesina, Amigos da Terra, PowerShift, Ecologistas en Acción und andere unterstützt, die so ihre Sorgen und Argumente im Europäischen Parlament vorbringen konnten. Am Montag ging es nachmittags beim Global South-North-Dialogue, mitorgansiert und kreativ unterstützt vom Brüsseler Büro der Rosa-Luxemburg-Stiftung, um einen umfassenden Meinungsaustausch zu Herausforderungen und Perspektiven internationaler Wirtschaftspolitik und nachhaltiger Entwicklung – unter Erinnerung an die Entwicklung und Begründung der ‚Neuen internationalen Weltwirtschaftsordnung‘ vor 50 Jahren und die Erklärung von Havanna 1973.

Der EU-CELAC Gipfel war auch Gegenstand einer Aussprache in der letzten Beratung des Ausschusses für Internationalen Handel des Europäischen Parlaments vor der Sommerpause. Die langen und schwierigen Gespräche mit den lateinamerikanischen Partnern haben der EU-Seite offenbar gezeigt, dass sie mit einem „Weiter so“ nicht durchkommen wird. So haben die Staatschef*innen aus Brasilien & Co zu verstehen gegeben, dass ihnen die ihnen zugedachte Rolle als Lieferanten wertvoller Rohstoffe nicht genügt.

Für die Europaabgeordneten war dies die letzte Sitzungswoche vor der Sommerpause. In der kommenden Woche geht es für mich und mein Team nach Rostock, wo wir unsere Schwerpunkte für die Arbeit der zweiten Jahreshälfte, und auch mit Blick auf das kommende Jahr beraten werden. Hinzu kommt, dass wir uns als relativ neu besetztes Büro auch besser kennenlernen wollen und zugleich uns auch in der Öffentlichkeit beim EIZ e.V. Rostock Fragen von Bürger*innen stellen wollen.

Doch zuvor lohnt sich für Sie ein weiterer Blick nach Süden, und zwar nach Spanien. Dort wird am Sonntag gewählt, nachdem Ministerpräsident Sánchez das Mitte-Links-Bündnis in der Hoffnung auf eine Alleinregierung der Sozialisten aufgekündigt hatte. Nun droht allerdings ein Erstarken der extremen Rechten, die von der konservativen Partido Popular ein Rechtsbündnis geladen werden könnten. Ein gefährlicher Trend, gegen den wir uns mit Blick auf die Europawahl mit Energie und guten Strategien stemmen müssen! Ich drücke unseren spanischen Genoss*innen ganz fest die Daumen.

 

Ihr

Helmut Scholz

26.-28. Juli: Büroklausur vor Ort

Dass mein Team Zuwachs bekommen hat, habe ich in meinen letzten Newslettern bereits erwähnt. In dieser neuen Zusammensetzung werden wir kommende Woche an drei Tagen in Rostock gemeinsam beraten, wie wir in den kommenden Monaten unsere Arbeit gestalten. Bis zur Europawahl am 9. Juni 2024 ist noch viel zu tun, um ökologische, soziale, friedliche und demokratische Parameter der EU-Politik von links weiterzuentwickeln. Das Parlament hat in diesem letzten Jahr der aktuellen Legislaturperiode noch über 200 Gesetzgebungsdossiers auf dem Tisch. Das heißt buchstäblich harte Arbeit - denn viele Abgeordnete sind ab September dann bestimmt schon in nationalen Wahlkämpfen - wie jetzt unsere spanischen oder niederländischen Kolleg*innen oder voll in die Vorbereitung ihrer Parteien auf die kommenden Europawahlen vom 6. bis 9. Juni eingebunden. Aber das darf nicht von der normalen parlamentarischen Aufgabe ablenken. Und auch in den beiden in meiner unmittelbaren Verantwortung liegenden Ausschüssen – also im Bereich Konstitutionelles als auch des Internationalen Handels – bewegt sich gerade noch einiges. So stehen die abschließenden Aussprachen und Abstimmungen, erst im Ausschuss und dann im Plenum, zur Überarbeitung der Geschäftsordnung ab September unmittelbar im Fokus der Arbeiten; und auch im Herbst bis Mitte Oktober soll dann endlich der Bericht zur Einberufung des Konvents für Veränderungen der EU-Verträge auf Grundlage des Artikels 48 EUV auf den Weg gebracht werden. Sprich: die spanische Präsidentschaft muss dann agieren. Ich habe ja dazu schon verschiedentlich hier berichtet. Ausgangspunkt war die Konferenz zur Zukunft Europas gewesen, aus der heraus durch die beteiligten EU-Bürger*innen die Forderung nach einem Konvent und Vertragsänderungen entstanden war. 48 konkrete Empfehlungen für eine viel stärker gemeinschaftlich erneuerte EU-Politik waren an Parlament, Rat und Kommission gerichtet worden, und diese hatten Handlungsantworten und Taten zugesagt. Darunter eben auch diese Forderungen nach wichtigen Veränderungen von EU-Politik – mit für alle Mitgliedstaaten gleichermaßen verbindlichen Regelungen, so bspw. im sozialen Bereich, beim Klima- und Umweltschutz, einer gemeinschaftlichen Außen- und Verteidigungspolitik oder zur Entwicklung einer Gesundheitsunion, hinsichtlich gemeinschaftlicher Rahmensetzungen im Bereich der Bildungs- oder Medienpolitik. Und natürlich auch hinsichtlich der Verteidigung von Rechtsstaatlichkeit, solidarischer Migrations- und Asylpolitik oder des Neu-Abwägens von Subsidiarität. Ich bleibe dabei: die Forderungen der Bürger*innen müssen ernstgenommen und umgesetzt werden. Politik kann nur gemeinsam mit den Menschen entwickelt werden, die tagtäglich die Auswirkungen der politischen Entscheidungen auf EU-Ebene zu spüren bekommen.

Im INTA werden wir mit einer ganzen Reihe von Abkommen zu tun haben: EU-Aotearoa (Neuseeland), EU-Australien, EU-Indonesien, EU-Indien EU-Kenia, EU-Chile, EU-Mexiko, und nicht zuletzt EU-Mercosur und EU-USA, sowie zur Wettbewerbssituation im Bereich der kritischen Rohstoffe, die im Ausschuss je nach Stand der Verhandlungsschritte intensiv begleitet werden. Hinzu kommen die noch ausstehenden horizontalen Gesetzgebungen u. a. zu kritischen Rohmaterialen, zur Zwangsarbeit, zur GSP-Gesetzgebung (ich hatte von der Unterbrechung der laufenden Trilog-Verhandlungen über diese Marktzugangsbegünstigung für Entwicklungsländer Ende Juni berichtet). Hinzu kommt das jährliche Public Forum der WTO im September mit einer Vielzahl von Veranstaltungen unter dem Thema „Handel und Klima“, die schon auch Themen aufgreifen, die auf die nächste Ministerkonferenz der WTO im Februar 2024 abzielen. Wie soll das multilaterale regelbasierte Welthandelssystem neu aufgestellt werden?

Die Arbeit im Parlament bleibt also spannend, aber auch in den Wahlkreisen vor Ort. Um uns ein Bild zu machen, wie und wo genau eigentlich die EU-Förderpolitik vor lokal wirkt, werden wir uns im Rahmen eines Stadtrundgangs EU-Förderprojekte in Rostock anschauen und ein Gespräch mit einem Fischer führen, um uns mit der Frage auseinanderzusetzen, wie EU-Fischereipolitik so gestaltet werden kann, dass die lokale Fischerei nicht in den Ruin gestrieben wird.

26. Juli, 18-19:30 Uhr: Kann die EU den Lohnverfall in MV aufhalten? – Erwartungen an die EU

Am Mittwoch diskutiere ich zusammen mit Klaus-Jürgen Strupp (Präsident der IHK zu Rostock) sowie Fabian Scheller (DGB Rostock-Schwerin) bei einer gemeinsamen Veranstaltung der Rosa-Luxemburg-Stiftung Mecklenburg-Vorpommern und des EIZ Rostock.

Trotz Einführung des gesetzlichen Mindestlohns 2015 liegt Mecklenburg-Vorpommern seit Jahren deutlich unter dem bundesdeutschen Durchschnitt beim Bruttomonatsverdienst und ist daher trauriges Schlusslicht beim Lohnniveau im Bundesvergleich. Zusätzlich bleibt bei den Menschen aufgrund von Inflation und gestiegenen Preisen für Energie und Lebensmittel immer weniger hängen. Kann die Europäische Union hier Einfluss nehmen zu Gunsten vieler Beschäftigter im Niedriglohnsektor?

Unser Bundesland ist zwar Schlusslicht beim Lohnniveau, aber dafür einer der Spitzenreiter bei der Erzeugung von grünem Strom. Eine Branche, die immenses Potential für die Zukunft birgt, unter anderem auch im Bereich Beschäftigung. Im Bereich der neuen Wasserstofftechnologie werden bereits mehrere Projekte im Land durch die EU gefördert, unter anderem in Rostock-Laage. Aber auch das Projekt „Energiehafen" im Rostocker Überseehafen. Sind diese und andere Investitionen der EU eine Möglichkeit unser Bundesland aus der Lohnfalle zu holen? Wie können Unternehmen im „Land zum Leben" Arbeitskräfte erfolgreich binden und welche Rolle kann die Europäische Union dabei einnehmen?

Ich freue mich auf die Diskussion und die Fragen und Anregungen der Menschen vor Ort. In gemütlicher Atmosphäre bei Speis und Trank wollen wir gemeinsam erörtern, was genau Mecklenburg-Vorpommern von der EU erwarten kann und sollte und welche Chancen, aber auch Risiken sich für M-V ergeben.

Die Veranstaltung findet im Haus Europa in der Östlichen Altstadt, Mühlenstraße 9, 18055 Rostock statt.

Hier können Sie sich anmelden.

Die Veranstaltung kann auch im Stream verfolgt werden.

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