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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 108, 07. Juli 2023
Liebe Leser*innen,

ich möchte an dieser Stelle noch einmal auf einen Vorgang eingehen, der schon ein paar Tage zurückliegt: Nach der Wahlniederlage der linken Partei Syriza bei den griechischen Parlamentswahlen vor zwei Wochen hat Parteichef Alexis Tsipras seinen Rückzug vom Parteivorsitz angekündigt.

Sein Rücktritt nötigt Respekt ab – auch wenn er zu erwarten war. Und sicherlich wird die griechische Linkspartei gründlich die Ursachen analysieren müssen. Aber zweifellos bedrücken diese Konsequenz und noch mehr die aktuelle Entwicklung in Griechenland. Denn es waren Syriza und ihr von 2015 bis 2019 amtierender Ministerpräsident Alexis Tsipras, die das Land durch die damalige verheerende Finanzkrise führten, die durch das unverantwortliche Handeln der Vorgängerregierungen entstanden war. Es war Tsipras, der den neoliberalen Spardiktaten der sogenannten Troika – also Europäischer Zentralbank, Internationaler Währungsfonds und EU-Kommission – die Stirn bot. Die den Mut besaßen, in dieser Situation ein Referendum über die europäische Perspektive Griechenlands abzuhalten und der dann eine Politik entwickelte, um die griechische Bevölkerung soweit wie möglich vor den Konsequenzen der Spardiktate zu schützen, wenngleich die Schritte, zu denen die Syriza-Regierung gezwungen war, schmerzhaft waren. Und in diesem Überlebenskampf hatten viele Menschen soziale Opfer zu zahlen, was hierzulande oft vergessen oder ausgeblendet wird, wenn es um die Entscheidung und Ausarbeitung einer wirklich gemeinschaftlich zu treffenden und umzusetzenden Politik der EU geht. Unvergessen ist das „Oxi“, das Nein der Griech*innen zur Politik der Er- und Auspressung Griechenlands. Dass nun die konservative Nea Dimokratia von der Politik Syrizas profitiert, ist bitter. Bitter ist auch, dass die verschiedenen Linksparteien sich nicht nur nicht zusammenfinden konnten, sondern unversöhnlich gegeneinander antraten. Und noch eines ist bedenkenswert:  keine der im Wahlkampf agierenden Parteien hatte die große Zukunftsfrage auch für Griechenland wirklich tiefschürfend thematisiert: die Klimakatastrophe. Auch wir sind gefordert, uns gemeinsam in der Partei der Europäischen Linken zu den Wahlen und den daraus zu ziehenden Lehren zu verständigen. Denn wie ich unseren griechischen Genoss*innen mitgeteilt habe: Wir werden weiterhin für ein soziales und demokratisches Europa kämpfen!

Dazu gehört aktuell sicherlich, sich gemeinsam vorzubereiten, um mit einer starken Linksfraktion bei den Europawahlen im Juni 2024 ins EU-Parlament einzuziehen. Und es sei ganz klar ausgesprochen: vom 6.-9. Juni 2024, dem Wahltermin für die Wahlen zum Europäischen Parlament in 337 Tagen, wird von seinem Ausgang abhängen, wer künftig die Gesetze in der EU machen wird. In diesem Wettbewerb muss es uns als linken Parteien in der EU gelingen, mit überzeugenden und klaren Perspektiven solche konkreten Antwortvorschläge vorzulegen, die mehr Menschen als bislang davon überzeugen, dass diese zu konstruktiven Veränderungen ihres Lebensalltags entscheidend beitragen würden. Und die deshalb ihr Votum einer demokratischen, progressiven, kohärenten und inklusiven Politik geben. Welche Anstrengungen dazu von den europäischen Linksparteien und von der deutschen LINKEN unternommen werden, habe ich an dieser Stelle bereits mehrfach berichtet. Der Zeitplan ist dabei für uns ganz klar: Der Europa-Parteitag der Partei DIE LINKE im November 2023 in Augsburg wird das Europawahlprogramm beschließen. Bis dahin gilt es ohne Wenn und Aber eine breite aktive Debatte um unsere Vorschläge zu organisieren: für eine zukunftsoffene wie -feste, sowie für eine solidarische, friedliche, faire und gerechte Entwicklung der Welt, die Menschen- und Umweltrechte in den Mittelpunkt stellt. Sicherlich innerhalb der Partei, aber nicht weniger wichtig im aktiven Dialog mit allen daran interessierten Menschen in unserem Land, mit Gewerkschaften und vielen aktiven Bürger*inneninitiativen, die wissen, wo vor Ort der Schuh drückt.

Auch der Bundesrat hat am Freitag einen wichtigen Beschluss gefasst: Die vom Bundestag bereits Mitte Juni beschlossene Einführung einer Zwei-Prozent-Sperrklausel für die Europawahlen wurde gebilligt. Im Gegensatz zu Bundestagswahlen gibt es in Deutschland derzeit keine Sperrklausel für die Europawahlen. Allerdings verlangt das von Rat und Parlament der EU beschlossene Europawahlgesetz von 2018 die Einführung von solchen Klauseln von mindestens zwei und maximal fünf Prozent. Damals gerade von der CDU/CSU in der EVP, aber auch anderen Fraktionen im Parlament vorangetrieben, mit Blick auf den Schiedsspruch des Bundesverfassungsgerichts nach einer EU-weit geltenden Verordnung gleiche Bedingungen in der EU zu schaffen, die ausgerichtet sind auf die (Wieder)Einführung einer Sperrklausel auch für Deutschland.

Ich halte solche Sperrklauseln für undemokratisch. Nicht, weil ich unkritisch gegenüber Positionen bin, die mitunter auch von Klein- und Kleinstparteien vertreten werden. Aber derartige Ausschlusskriterien verzerren den Willen der Wähler*innen und die demokratische Meinungsbildung auf europäischer Ebene. Ich sehe sie eher als Instrument der großen Parteien, sich „unliebsame Konkurrenz“ vom Leibe zu halten.

Von Berlin nach Strasbourg: In der Plenarsitzung des Europaparlaments kommende Woche stehen gleich eine ganze Reihe wichtiger Punkte auf der Tagesordnung. So wird es eine Debatte zur Rechtsstaatlichkeit in Polen geben. Vor der dortigen Wahl im Herbst hat die EU-Kommission dem Land gravierende Mängel im Kampf gegen die Korruption bescheinigt. Die Regierung in Warschau habe „keine Initiativen“ ergriffen, um gegen „Korruption auf höchster Ebene“ vorzugehen, heißt es in dem am Mittwoch in Brüssel veröffentlichten Rechtsstaats-Bericht der Kommission. Insbesondere kritisiert die Kommission die „weitreichende Immunität von Spitzenbeamten“ und neue „Straffreiheits-Klauseln in der Gesetzgebung“. Zudem gebe es seit 2020 kein Anti-Korruptions-Programm mehr in dem Land. Ich bin überzeugt, dass wir als Parlamentarier*innen dazu klar Stellung beziehen und nicht zulassen werden, dass durch die Regierung in Warschau abermals europäische Werte und Verträge verletzt werden.

Auch das Thema „Befristete Maßnahmen zur Liberalisierung des Handels in Ergänzung der Handelszugeständnisse für moldauische Waren“ wird das Parlament ein weiteres Mal beschäftigen. Hinter dem sperrigen Titel verbergen sich Unterstützungsmaßnahmen für das osteuropäische Land, das angesichts einer komplizierten innenpolitischen Lage und der russischen Aggression in der benachbarten Ukraine vor großen Problemen, insbesondere auch in sozialer Hinsicht, steht. Darüber konnte ich mir bei einem Besuch im Frühjahr persönlich ein Bild machen. Die wirtschaftliche und soziale Situation ist für viele Menschen mehr als prekär in einem der ärmsten Länder, das zudem zu fast 100 Prozent von Stromimporten und Gasversorgung aus dem Ausland abhängig ist. Gegenwärtig findet ein Umbau der traditionell auf die Russische Föderation ausgerichteten Wirtschaft statt. Dazu braucht es die Hilfe aus der EU – ebenso wie Überwindung der oligarchischen Strukturen, die Moldau so lange gesellschaftlich gespalten und destabilisiert haben. Der von der EU gewährte Beitrittskandidaten-Status verlangt zudem eine Reform des Justizwesens, eine Verbesserung der sozialen Situation der Menschen gerade in den ländlichen Regionen sowie die Herstellung demokratischer Verhältnisse, einschließlich der Pressefreiheit. Es gibt noch viel zu tun, für Moldau und die EU.

Nicht zuletzt wird es natürlich auch eine Aussprache zu den Ergebnissen des Europäischen Rats in der vergangenen Woche geben. Sicher wird sich die Kommission für ihr Handeln und die Beschlüsse des EU-Spitzengremiums loben. Da haben wir als Linke allerdings eine ganz andere Meinung: So wurden bei der Asyl- und Migrationspolitik die Weichen in Richtung eines noch stärkeren Ausbaus der „Festung Europa“ gestellt, was die Lage von Menschen auf der Flucht vor Armut, Hunger und Krieg weiter verschärfen wird. Und gerade auch zu der beschlossenen „Strategie“ gegenüber Peking habe ich als Mitglied in der China-Delegation des Europäischen Parlaments heftige Kritik. Denn der offensichtliche Rückzug ins transatlantische Schneckenhaus ist die falsche Antwort auf den Ukraine-Krieg und für das künftige Verhältnis zu China. Das Land ist derzeit die einzige Kraft, die die russische Führung zur Vernunft bringen könnte. Ich halte es deshalb für fatal, die Taue zur Volksrepublik zu kappen und so die Fehler des kalten Krieges zu wiederholen. Nicht zuletzt auch angesichts solcher Herausforderungen wie der Klimakatastrophe und der Umsetzung der UN-Nachhaltigkeitsziele. Die gemeinsamen Probleme können wir auch nur gemeinsam lösen.

Zu diskutieren wird auch sein, wie die beschlossene Fortsetzung der solidarischen Unterstützung der Ukraine, wiederum leider vornehmlich auf die militärische Dimension ausgerichtet, nun mit der Lieferung von Streubomben durch die USA, die international auch von den EU-Mitgliedstaaten, geächtet sind, jetzt gestaltet werden wird. Es bleibt die Frage: was kann und wird die EU unternehmen, um alle politisch-diplomatischen Kanäle zu nutzen, um der weiteren Eskalation der Aggression und des Krieges ein Ende zu setzen.

Was nächste Woche noch an wichtigen Themen auf der Tagesordnung des Parlaments steht, können Sie wie stets unten lesen.

 

Ihr

Helmut Scholz

10. Juli: Umsetzung der bereits in den EU-Verträgen (Artikel 48 des EUV) bestehenden „Passerelle“-Klauseln

Gleich am Montag Abend wird im Plenum ein in seiner Bedeutung nicht zu unterschätzender, bislang in der Öffentlichkeit weitestgehend unbeachteter und sicherlich auch trocken wirkender Bericht vorgestellt, der eng mit einem der zentralen Aufgabenfelder meiner Arbeit im Verfassungsausschuss zusammenhängt: der Qualifizierung bzw. Überprüfung der Wirkungsmechanismen europäischer Gesetzgebung auf Grundlage der Europäischen Verträge. Es ist weitgehend bekannt, dass die Mitgliedstaaten der EU in vielen Themenbereichen zwar die nötige (rechtliche) Kompetenz übertragen haben, diese dann faktisch jedoch wenig schnell handlungsfähig ist. Immer, wenn die Mitgliedstaaten nur einstimmig entscheiden dürfen, kann das für die Mitgliedstaaten faktisch entstehende "Veto-Recht" die Entscheidungsfindungsprozesse sehr langwierig bis nahezu unmöglich machen: Wirklich ALLE verschiedenen Interessen zu berücksichtigen ist in der Praxis eben nur selten möglich.

Dazu kommt jedoch noch ein ganz anderes Problem: Die unterschiedliche Priorisierung der gesetzlichen Vorhaben führt auch dazu, dass Mitgliedstaaten die Blockade eines Vorhabens als reines Druckmittel nutzen können, um politische Vorteile in ganz anderen Bereichen zu erzielen. Obwohl mit dem Prinzip der Einstimmigkeit eigentlich die größtmögliche Legitimität von Entscheidungen gewährleistet werden soll, kann in der Praxis daher ein sehr gegenteiliger Effekt auftreten.

Eine naheliegende Lösung für dieses Problem könnte mit einer Reform der Abstimmungsrechte im Entscheidungsprozess des Europäischen Rats aufgetan werden. Ziel: Das Prinzip der Einstimmigkeit im EU-Rat wird für einen Großteil der politischen Bereiche durch eine Abstimmung mit qualifizierter Mehrheit ersetzt. Auch ich halte angesichts der großen wirtschaftlichen und politischen Veränderungen und Herausforderungen der letzten 20 Jahre an die Politikfindung der EU die Zurücknahme vom Einstimmigkeitsprinzips für begrenzte Themenfelder für sinnvoll.

Gerade weil wir – ich hatte auf die Lehren aus der Finanzkrise, der Corona-Pandemie bzw. der Notwendigkeit verpflichtender EU-Umwelt- oder Gesundheitspolitik mehrfach verwiesen – die gemeinschaftliche Handlungsfähigkeit der EU verbessern und im pluralen gesellschaftlichen Diskurs von 27 Mitgliedstaaten neue Strukturen und institutionelle Mechanismen entwickeln müssen. Klar ist für mich: dieser aktivierende Schritt hin zu ersten institutionellen Anpassungen muss, da wir keine parlamentarische Mitbestimmung bei der Außen- und Sicherheitspolitik besitzen, bei allen militärischen und sicherheitspolitischen Fragen auch weiterhin nicht das Prinzip der Einstimmigkeit aufheben.

Damit ist auch klar: die Umsetzung der Empfehlungen der EU-Zukunftskonferenz, eine gemeinsame, gemeinschaftlich getragene und umgesetzte Außen- und Sicherheitspolitik zu realisieren und dahingehend das bisherige patchwork zu überwinden, braucht den Mut zum Ermöglichen gemeinsamer neuer Entscheidungsprozedere. Noch mehr, wenn es um eine wirklich Soziale Union oder eine Gesundheits- oder Umweltunion geht. Das ist über die passerelle Klausel nicht zu erreichen, sondern es braucht bei derartigen, durchaus anstehenden und dringlich notwendigen Reformvorhaben eine Veränderung der Europäische Verträge. Und wer meinen Newsletter schon etwas länger verfolgt, weiß wie schwierig es ist, die Einberufung eines Verfassungskonvents zu erreichen.

Bis wir soweit sind, wollen wir als Parlament deshalb einen Zwischenschritt machen, und zwar jene Möglichkeiten der Verträge nutzen, die es bereits jetzt erlauben, gewisse Entscheidungen, die eigentlich einstimmig beschlossen werden müssten, mit einer qualifizierten Mehrheit abzustimmen: durch eine Aktivierung der Passerelle-Klausel. Bei einer Anwendung dieser Regelung ist es den Mitgliedstaaten möglich, schon vorab eine Entscheidung über die Art der Entscheidungsfindung zu treffen. Man kann also einstimmig entscheiden, in der eigentlichen Abstimmung nicht einstimmig zu entscheiden. Kling etwas verrückt, kann aber durchaus Sinn machen! So beispielsweise, wenn man sich vorab darüber einig ist, eine oben beschriebene Blockade, die eigentlich nur wegen Interessen in anderen Verhandlungen besteht, verhindern zu wollen.

Eine Veränderung der primärrechtlichen Grundlagen der EU bleibt für mich aber unverzichtbar – gerade, weil europäische Politik sich auf das Vertrauen der Bürger*innen stützen muss, sie einbeziehen muss und grundsätzlich die Entscheidungsprozesse und institutionellen Regelungen demokratisch aufgestellt sein müssen. Selbst bei Nutzung der Passerelle-Regelungen also macht eine Reform der Verträge nicht weniger dringlich, um die Empfehlungen der Zukunftskonferenz – die im Übrigen weitaus mehr als eine Reform der Entscheidungsfindung umfassen – glaubhaft umzusetzen. Für genau dieses Ziel werde ich auch weiterhin im Ausschuss für konstitutionelle Angelegenheiten (AFCO) alles geben. 

Wie immer können der Tagesordnungspunkt und der Rest der Plenarsitzung natürlich auch online im Livestream verfolgt werden.

11. Juli ab 9 Uhr: Debatte & 12. Juli ab 12 Uhr: Abstimmung zum Renaturierungsgesetz

Es ist lange her, dass in der EU so erbittert über Naturschutz gestritten wurde wie in den vergangenen Monaten. Seit 1992 das letzte EU-Gesetz zum Naturschutz (die Habitate-Richtlinie) auf den Weg gebracht wurde, sind nunmehr über 30 Jahre vergangen. Seitdem standen in Brüssel viele andere Themen im Rampenlicht – selbst angesichts der Green Deal und “Fit for 55” Gesetzgebungen, die angesichts der Herausforderungen aus Klimawandel und Anstieg der globalen Erderwärmung wirtschaftspolitische mit umweltpolitischen Belangen verknüpften. Dabei ist es um Flora und Fauna in der EU schlecht bestellt: 81 % aller unter Schutz gestellten Lebensräume sind in einem mangelhaften Zustand. Auch die Vielfalt der Vogel-, Schmetterlings-, Insekten- und Bienenarten ging in den vergangenen Jahren rapide zurück. Aber spätestens mit der historischen Annahme des Globalen Biodiversitätsrahmens von Kunming-Montreal durch das 15. Treffen der Konferenz der Mitgliedsländer der Vereinten Nationen am 18. Dezember 2022 ist eine Umsetzung dieses weltweit anzuwenden völkerrechtlichen Vertrags in EU-Recht überfällig.

Das diese Woche zur Plenarabstimmung stehende Renaturierungsgesetz („Gesetz zur Wiederherstellung der Natur“) soll die EU-Mitgliedsländer deshalb zum Gegensteuern zwingen. Dieses Gesetz ist sozusagen ein Kernstück zur Umsetzung der Wiederherstellung der Natur, um das Überleben unserer Zivilisation zu sichern. In nationalen Renaturierungsplänen müssen die EU-Mitgliedstaaten künftig darstellen, wie sie den ökologischen Zustand von etwa 20 % aller Land- und Meeresflächen verbessern wollen. Wird das Gesetz angenommen, müssen Wälder, Flüsse, Sümpfe, Landwirtschaftsflächen und städtische Grünflächen widerstandsfähiger und reicher an Tier- und Pflanzenarten werden. Bis 2030 ist insbesondere vorgesehen, drei Milliarden zusätzliche Bäume zu pflanzen, den Rückgang der Bienenpopulationen zu stoppen und zahlreiche trockengelegte Feuchtgebiete zu renaturieren. Also wichtige, spätestens jetzt zu gehende Schritte in die richtige Richtung.

Weshalb das alles? In Folge der Klimaerwärmung häufiger werdende Überschwemmungen, Waldbrände, Dürren und Stürme setzen unsere Ökosysteme unter Stress. Gleichzeitig brauchen wir fruchtbare Böden, kühlende Stadtparks oder Treibhausgase bindende Wälder, Sümpfe und Meere wie nie zuvor. Denn: in den letzten Dekaden haben wir ca. 70 % der fruchtbaren Böden verloren, landwirtschaftliche Nutzflächen sind zunehmend verwüstet, und europaweit sind ca. 80 % der natürlichen Lebensräume in katastrophalem Zustand.

Das Vorhaben aber trifft auf den erbitterten Widerstand der konservativen und rechten Kräfte des EU-Parlaments. Befördert von Lobbyinteressen: von der „Stimme der Agrarindustrie in Europa“ Copa-Cogeca wird eine strenge EU-Regulierung abgelehnt.

Dabei scheute die EVP-Führung um Manfred Weber auch nicht davor zurück Falschinformationen zu verbreiten und Druck auf gemäßigte MdEP in den eigenen Reihen auszuüben. Meine Fraktionskolleg*innen haben in den vergangenen Monaten hart daran gearbeitet, gegen den Widerstand der konservativen Kräfte einen zukunftsfesten Rechtsrahmen zum Schutz der Natur durchzusetzen. Und sicher: wir bräuchten noch mehr konkrete Verpflichtungen von Politik und Wirtschaft – gerade auch hinsichtlich der solidarischen Unterstützung der vielen Agrar-Produzent*innen, insbesondere der kleinen und mittelständischen Höfe und Produktionseinrichtungen, aber auch der Agrarbetriebe in den Neuen Bundesländern Deutschlands. Sie dürfen nicht zum alleinigen Zahler der Zeche gemacht werden, die wir als Gesellschaft in unserem ureigensten Interesse vielmehr zu zahlen bereit sein müssen. Darauf wird sich auch die sicherlich weitere, erneute Überarbeitung der Gemeinsamen Agrarpolitik der EU- wenn dieser Blick auf die prioritären Aufgaben der Legislatur 2024-2029 schon mal gestattet ist - beziehen müssen.

Die Abstimmung am Mittwoch, nach der Debatte am Dienstag, wird eng, und vielleicht ist angesichts dessen nicht ganz von der Hand zu weisen, dass wir es hier auch mit einem sich abzeichnenden Tabu brechenden Testlauf der EVP, eine rechtskonservative Mehrheit mit den Stimmen von ganz rechts auszuloten, zu tun haben.  

Vielleicht sei hier aber zum Verdeutlichen des inhaltlichen Kerns dieser wichtigen politischen Entscheidung auf europäischer Ebene noch ein Lesetipp angebracht, der die Komplexität der vor uns stehenden Aufgabe überzeugend beleuchtet: Matthias Glaubrecht, “Das Ende der Evolution. Der Mensch und die Vernichtung der Arten”, C. Bertelsmann Verlag, 2019 (ISBN 978-3-570-10241-1), aber Achtung für alle bald in Urlaub gehenden Leser*innen: 1070 Seiten warten auf Sie.

11. Juli, ab 10:30 Uhr: Debatte & am 12.07.: Abstimmung zum European Chips Act

Halbleiter sind seit einiger Zeit ein zentrales Thema in der Handels- und damit auch in der Geopolitik der EU. Nach knapp anderthalbjähriger Verhandlung wird das EP in der kommenden Woche in Strasbourg über den European Chips Act abstimmen. Mit diesem weiteren industriepolitischen Gesetzesvorhaben hat die Kommission das Ziel gesetzt, unter anderem die EU-Produktionskapazität auf diesem Gebiet (aktuell bei ca. 10% der weltweiten Produktion) bis 2030 zu verdoppeln, um unabhängiger von anderen Staaten und somit anfälligen Lieferketten zu werden. Diese Mammutaufgabe der (Re-)Industrialisierung der EU in Spitzentechnologien soll durch öffentliche Fördermittel bestritten werden. Dabei ist kritisch zu sehen, dass diese Gelder, die zum Aufbau der Halbleiterinfrastruktur in der EU bereitgestellt werden, nicht an hinreichend strikte Regeln für Unternehmen geknüpft sind, um langfristig relevante Forschung effektiv sicherstellen zu können. Auch Garantien für eine öffentliche Beteiligung an den durch Fördermittel erzielten Gewinnen wurden nicht festgelegt - es ist das alte Prinzip, Risiken zu kollektivieren und Gewinne zu privatisieren. Ebenso zu dem Kompromiss gehört, dass Ausnahmen im Umweltschutz im „öffentlichen“ Interesse gewährt werden können. Höchst bedenklich und gerade hier sieht auch die Linksfraktion im EP erheblichen Nachbesserungsbedarf. Es ist unbestritten, dass sich die europäische Wirtschaft entsprechend der Herausforderungen der Zukunft umstellen muss. Wenn das aber durch öffentliche Gelder finanziert wird, muss es strikte Regeln geben, die sicherstellen, dass dieser Prozess sozial- und umweltverträglich abläuft.

Dieser Gesetzentwurf ist in seiner Zielrichtung, aber auch in der Ambivalenz seiner einzelnen Aussagen nur vor dem Hintergrund der geopolitischen Spannungen zwischen den USA und China einerseits und den hochkomplexen Lieferketten in der Halbleiterproduktion andererseits zu verstehen. Die beiden Länder befinden sich in einer Eskalationsspirale von Ausfuhrbeschränkungen von produktionsrelevanten Technologien und Komponenten. Dabei droht die EU zwischen die Fronten dieser wirtschaftlichen Blöcke zu geraten. Ein Prozess, der noch dadurch verstärkt wird, dass auch die Niederlande, auf Druck der USA, ebenfalls Ausfuhrbeschränkungen für Halbleiter erlassen haben, woraufhin China diese Woche den Export von wichtigen Metallen zertifikatpflichtig gemacht hat. Es wird deutlich, dass ein Wettbewerb von Ausfuhrkontrollen am Ende allen Beteiligten schadet. Es sei mir in diesem Zusammenhang noch einmal ein Blick zurück auf das Weltwirtschaftsforum (WEF) in Davos im Januar 2023 gestattet. Da hatte der Chef der Beratungsgesellschaft Eurasia, Ian Bremer, auf diesen Bereich der Technologie im Konflikt USA-China verwiesen: Die nicht nur ökonomische sondern auch technologische Entkoppelung bedeute, dass „Milliarden Menschen Dienste mit unterschiedlichen Algorithmen nutzen - die einen von westlichen Unternehmen entwickelt, die anderen aus China. Das wird dazu führen, dass die Menschen einen völlig unterschiedlichen Blick auf die Welt haben werden. Denn die Algorithmen entscheiden, welche Nachrichten Menschen nutzen, welche Diskussionen auf ihren screens erscheinen und wie ihre Netzwerke wachsen. Die Folge wäre nicht nur eine ökonomische, sondern auch eine kulturelle Spaltung der Welt.” Deshalb wirft diese geoökonomische Positionierung der EU eine sehr grundsätzliche Frage an die EU der 27 auf: Im Interesse der Lösung der globalen Fragestellungen, Quo vadis EU?

Die Debatte können sie auch hierzu wie immer im livestream des Europäischen Parlaments verfolgen.

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