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Helmut Scholz, MdEP
Zwischen Zeuthen und Brüssel, Ausgabe 103, 02. Juni 2023
Liebe Leser*innen,

in dieser Woche stand, wie bereits im vergangenen Newsletter angesprochen, im Europäischen Parlament die wirklich bedeutsame, weil weitreichende Entscheidung zum EU-Lieferkettengesetz auf der Tagesordnung. Und ich kann Ihnen heute berichten: Wir haben einen klaren Etappensieg für gerechtere globale Wirtschaftsbeziehungen errungen. Obwohl sich CDU/CSU in letzter Sekunde innerhalb der EVP-Fraktion gegen den Schutz der Arbeitnehmer*innenrechte stellten und den auch mit dieser Fraktion in langen Vorabverhandlungen erreichten Kompromiss aufkündigten, hat die Mehrheit des EU-Parlaments für eine wirksame Lieferketten-Richtlinie gestimmt. Alle großen europäischen Unternehmen ab 250 Beschäftigten sollen Verantwortung für Menschen- und Arbeitnehmer*innenrechte übernehmen. Jetzt müssen die Regierungen der Mitgliedstaaten Stellung beziehen – und die Richtung sollte klar sein.

Das EU-Parlament geht damit weit über das deutsche oder auch das französische Lieferkettengesetz und den vorgelegten EU-Kommissionsentwurf hinaus. Das Plenum hat den federführenden Ausschuss zugleich beauftragt, nun nach der Abstimmung sofort die Verständigung mit dem EU-Rat als zweitem Gesetzgeber auf EU-Ebene aufzunehmen, also in den Trilog einzutreten, dessen erste Verhandlungsrunde bereits in der kommenden Woche beginnen wird. Auch die Ampel-Koalition muss jetzt Farbe bekennen und sich in Brüssel klar für eine wirksame Lieferketten-Richtlinie einsetzen. Umso spannender, als die FDP-Abgeordneten im Brüsseler Plenum gegen diese Gesetzgebung stimmten, anders als viele andere Abgeordnete der liberalen Fraktion „Renew“. Und ja, die Zeit drängt: Bürger*innen erwarten, dass die Regelung noch vor den Europawahlen beschlossen wird.

Apropos Wahlen. In dieser Hinsicht ist in letzter Zeit einiges geschehen. Ich meine damit weniger den umstrittenen Wahlsieg des türkischen Präsidenten Erdoğan am vergangenen Wochenende, der seinen repressiven Kurs im Land fortsetzen und den schäbigen und unmenschlichen „Flüchtlingsdeal“ mit der EU beibehalten wird.

Mir geht es vor allem um jene Staaten, in denen die Linkskräfte deutliche Wahlerfolge erzielen konnten – oder in denen sie sich für künftige Herausforderungen wappnen müssen.

Stichwort Nordirland: Bei der Kommunalwahl vor zwei Wochen hat die linke Sinn Féin, die auch in der Linksfraktion im Europaparlament vertreten ist, einen historischen Erfolg gefeiert. Erstmals seit der Schaffung der britischen Provinz vor gut 100 Jahren holte die Partei die meisten Sitze auf kommunaler Ebene. Sinn Féin tritt für eine Vereinigung mit Irland ein, stellt in ihrer Politik die Interessen von allen Menschen, ihre sozialen und wirtschaftlichen Problemlagen sowie die Gemeinschaften in den Vordergrund. Zuallererst geht es nun aber darum, die Blockade der Regionalregierung durch die erzkonservative DUP zu überwinden. Denn diese wehrt sich mit allen Kräften und unsauberen Tricks gegen eine Regierung unter Führung der Sinn Féin.

Stichwort Spanien: Nach dem Debakel für die Sozialdemokraten der PSOE bei den Regionalwahlen, ebenfalls am vergangenen Wochenende, wird bereits im Juli ein neues nationales Parlament gewählt. Und das in einer Situation, in der Spanien ab dem 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft von Schweden übernimmt. Die verschiedenen Linkskräfte in Spanien müssen sich dabei mit ihren Angeboten für eine soziale, gerechte Politik behaupten. Auch wenn die konservative Volkspartei PP sich bereits auf der Gewinnerstraße sieht und einen aggressiven Wahlkampf führt, hoffe ich, dass Vereinigte Linke (Izquierda Unida), Unidas Podemos und die relativ junge Sumar die Wähler*innen im Bündnis mit anderen progressiven Kräften mit ihren Programmen überzeugen können.

Stichwort Griechenland: Für die linke Syriza und Alexis Tsipras hat es Mitte Mai leider nicht zu einem Wahlsieg gegen die Konservativen gereicht. Dabei hat die Nea Dimokatia (ND) sicher auch davon profitiert, dass die Syriza-Regierung von 2015 bis 2019 das Spardiktat der internationalen Gläubiger-Troika aus Europäischer Zentralbank, Internationalem Währungsfonds und EU-Kommission so gemanagt hat, dass die Folgen für die breite Bevölkerung zumindest abgemildert wurden. Aber, und das sollte man hervorheben, Syriza ist die zweitstärkste Partei in Griechenland und errang bei den Wahlen 20 Prozent Stimmenanteil. Da es jedoch auch für ND keine klare Mehrheit im Parlament gab, wird nun am 25. Juni erneut abgestimmt.

Inzwischen steht auch der Zeitrahmen für die Europawahlen fest: Vom 6. bis 9. Juni 2024 wird in den EU-Mitgliedsstaaten die zehnte Direktwahl zum EU-Parlament stattfinden. Das Europaparlament wird in den nächsten Wochen final die genaue Zusammensetzung des Parlaments festlegen: ein notwendiger gesetzgeberischer Schritt, da vor den Wahlen die in den Mitgliedstaaten zahlenmäßig zu wählenden Abgeordneten und somit die Sitzzahl entsprechend der demografischen Entwicklung in den 27 EU-Mitgliedstaaten unter Anwendung des Prinzips der degressiven Proportionalität bestimmt werden muss. In dieser im kommenden Jahr zu Ende gehenden 9. Legislaturperiode bestimmten 705 Abgeordnete die EU-Gesetzgebung mit. Nach dem Ausscheiden des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland waren viele Sitze des in den EU-Verträgen auf maximal 750 Abgeordnete plus Präsident*in festgelegten Größe der europäischen Volksvertretung bewusst frei belassen. Und das Europäische Parlament versuchte ja auch in dieser Legislatur, die Europäische Wahlgesetzgebung zu reformieren. Stichwort: Einführung eines transnationalen Wahlkreises und Aufstellung einer transnationalen Liste als zusätzlichem Schritt in Richtung Gemeinschaftswahlrecht. Aber diese und weitere Neuerungen treffen noch immer auf den Widerstand vieler Mitgliedstaaten im EU-Rat und der entsprechende Trilog zur Verständigung zwischen Parlament und Rat steckt in der Sackgasse. Es bleibt also beim Feilschen um Sitzzahlen zwischen den EU-Mitgliedstaaten – es gibt weiterhin wenig Bereitschaft seitens des Staatenverbundes, sich im 3. Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts weiter zu demokratisieren und nationale Interessen und Machtsicht auf EU-Politik als dem Entscheidungskriterium zu überwinden und gemeinschaftliche und solidarische Entscheidungsstrukturen zu schaffen. Doch genau das müssen wir erreichen, wenn wir die globalen Krisen wie Klimakatastrophe, Inflation oder Energiekrise überwinden wollen.

In vergangenen Newslettern habe ich Sie darüber informiert, wie wir uns als deutsche Linkspartei und insbesondere auch als Delegation DIE LINKE. im Europaparlament für diese Wahlen aufstellen werden. Ganz sicher wird dies auch ein Thema bei den Studientagen unserer Fraktion in der kommenden Woche in Dänemark und Schweden sein. Mehr zum Programm können Sie, wie stets, unten lesen.

 

Ihr

Helmut Scholz

05. Juni bis 08. Juni: Studientage in Malmö

Die kommende Woche steht vollkommen im Fokus der traditionellen „Study Days“ unserer Fraktion. Diese Study Days sind eine halbjährliche Initiative der Fraktion, bei der MdEPs und Mitarbeitende sich außerhalb Brüssels oder Strasbourgs die Zeit nehmen, sich im Land des jeweiligen EU-Ratsvorsitzes intensiver mit verschiedenen Themenschwerpunkten zu beschäftigen, dabei auch mehr über die politische, wirtschaftliche und gesellschaftliche  Situation des Landes erfahren und den Alltag im Gastgeberland kennenlernen wollen; und sich natürlich auch mit der dortigen Linken und  Vertreter*innen von Zivilgesellschaft, Gewerkschaften oder auch lokalen Institutionen treffen.

Da der Ratsvorsitz bis Ende des Monats in der Verantwortung Schwedens liegt, finden unsere Studientage diesmal in Malmö statt und das Programm haben unsere schwedischen Fraktions-MdEP und Mitarbeiter*innen entworfen. Und auch in guter Tradition: Gemeinsam mit den dänischen Kolleg*innen, weil aktuell viele Entwicklungen in beiden skandinavischen Ländern ähnliche Herausforderungen bereiten. Wir werden also die Gelegenheit nutzen, um mit dänischen und anderen skandinavischen Linken zusammenzutreffen und so am ersten Tag mit einem „Ausflug“ nach Kopenhagen beginnen. Das Programm sieht am Dienstag zwei Treffen im Dänischen Parlament auf der innerstädtischen Insel Slotsholmen vor, wo wir mit linken Politiker*innen aus der schwedischen, dänischen, norwegischen und finnischen Linken zwei Kernfragen diskutieren wollen:

  • Wie kann die Linke die Stimmen der Arbeiterklasse gewinnen? Und wie kann und muss eine sozial-ökologische Transformation der Wirtschafts- und v. a. der Industriepolitik gerade den arbeitenden Menschen, der Arbeiterklasse zugutekommen?
  • Wie können wir Tarifverträge stärken und Sozialdumping bekämpfen?

Beide Fragen beschäftigen die Linke seit Ewigkeiten und sind ja sehr grundsätzlicher Natur. Unsere Gastgeber wollen anregen und ihre Vorstellungen aufzeigen, um in zentralen Fragen ihren Beitrag für eine strategische Ausrichtung der Europäischen Linken in diesen Fragen zu leisten. Die Reise ist also auch eine Möglichkeit die Erfahrungen und Ideen der linken, progressiven und demokratischen Kräfte in diesen Mitgliedstaaten miteinzubeziehen. Vor dem gleichen Hintergrund nutzen wir auch den Nachmittgag, um dänische Gewerkschafter*innen des Vereinigten Verbands der dänischen Arbeiter (Fagligt Fælles Forbund) zu treffen.

Am Mittwoch widmen wir uns dann einem anderen, hochaktuellen und herausfordernden Thema: der Rechtsentwicklung in vielen EU-Mitgliedstaaten und auch in Schweden und Dänemark. Wie also setzen wir uns erfolgreich im Kampf gegen die europäische Rechte mit gesellschaftlichen Entwicklungen auseinander: Können wir die rechtsextremen und konservativen Nationalisten mit einer stärkeren Sozial- und Arbeitsrechtspolitik bekämpfen? Was sind die wirksamsten Antworten für die Linke und wie können wir das Blatt wenden?

Ein weiterer thematischer Schwerpunkt, dem wir anschließend nochmal ein explizites Panel widmen, ist die der Erarbeitung konkreter, europäischer Positionen für antirassistische Mobilisierung in unseren Ländern. Um auch hier nicht bei rein internen Diskussionen zu bleiben, haben wir ein Panel mit Politiker*innen und anti-rassistischen Aktivist*innen aus mehreren EU-Staaten.

Die Study Days sind eine wertvolle Möglichkeit, in den Austausch mit Personen vor Ort zu treten und die jeweiligen Städte persönlich zu erleben. Gleichzeitig sind sie aber auch immer die Möglichkeit, die Mitarbeiter*innen und Abgeordneten der Fraktion in einem etwas zwangloseren Setting zu treffen. Ich freue mich daher sehr auf die gemeinsame Zeit mit allen geladenen Expert*innen, Politiker*innen und Mitarbeiter*innen, bevor wir dann am Donnerstag wieder unsere Rückreise antreten werden. Und natürlich bleibt die ganze Woche über auch der Arbeitsalltag in Brüssel im Hinterkopf, mit den sogenannten „Deadlines“ für Anträge zu verschiedenen Berichten und Stellungnahmen sowie dem Verfolgen von Verhandlungsprozessen zu dem einen oder anderen Themenschwerpunkt.

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