Den Werkzeugkasten der europäischen Demokratie auffüllen!
Die positiven Reaktionen auf seinen Initiativbericht “Bürger*innendialoge und die Teilhabe von Bürger*innen an Entscheidungsprozessen der EU” sowie erste Abstimmungsergebnisse zu den Änderungsanträgen wertet der Europaabgeordnete Helmut Scholz als klares Votum für den Ausbau der europäischen Demokratie. Am Mittwochmittag hatte das Plenum über den Bericht abgestimmt.
Bereits in seiner Plerarede (unten) hatte der Linke-Parlamentarier darauf verwiesen, dass es für die Fortsetzung der europäischen Integration von entscheidender Bedeutung sei, die Bürger*innen in europäische Debatten einzubeziehen und sie aktiv an der Entscheidungsfindung der EU zu beteiligen. „Daher ist es nicht nachzuvollziehen, dass eine knappe Mehrheit von EVP, Rechtskonservativen und -populisten weitergehende Ideen für Transparenz der EU Institutionen, und Schaffung permanenter Mechanismen zur Unterstützung Bürger*innen engagement und Bildung verhindern.“
„Die Eurobarometer-Umfragen müssen ein Alarmsignal für uns sein: Wenn ein erheblicher Teil der vielzitierten europäischen Bürgerinnen und Bürger sich von Mitsprache und Mitentscheidung in der EU ausgeschlossen fühlt, ist es höchste Zeit zu handeln“, so Helmut Scholz weiter. „Die Bürger*innen brauchen eine stärkere Stimme in der EU-Entscheidungsfindung. Dafür müssen wir die bestehenden Partizipationsmechanismen verbessern und neue auf EU-Ebene einrichten.“
Der Abgeordnete verwies in diesem Zusammenhang auf die in dem Initiativbericht vorgeschlagenen Maßnahmen wie Bürgerhaushalt, Crowdsourcing oder die Europäische Bürgerinitiative. „Solche Instrumente müssen künftig zum Werkzeugkasten der europäischen Demokratie gehören“, betonte Helmut Scholz.
Der LINKE-Politiker weiter: „Mit meinem Initiativbericht wird aber nicht nur der partizipativen Demokratie ein Impuls gegeben. Es wird zugleich eine Verknüpfung mit der nun gestarteten Konferenz über die Zukunft der EU hergestellt. Denn die Conference on the Future of Europe ist eine einzigartige und bislang nicht praktizierte Möglichkeit, die Bürgerinnen und Bürger eng in eine Bottom-up-Aktion einzubeziehen. Vor allem aber sollten die im Rahmen der EU-Zukunftskonferenz eingerichteten Mechanismen zur Bürger*innenbeteiligung zu einem dauerhaften Instrument gemacht werden. Dies würde nicht nur zu größerer Akzeptanz in der EU führen, sondern wäre zugleich die Basis für deren stetige Weiterentwicklung im Interesse der Menschen.“
Rede MdEP Helmut Scholz Vorstellung des Initiativberichts “Bürger*innendialoge und die Teilhabe von Bürger*innen an Entscheidungsprozessen der EU”
Strasbourg 04.07.2021
Rechtzeitig noch vor dem Start der Bürger*innen-Foren, dieser wichtigen, zweiten zentralen Säule der begonnenen Konferenz über die Zukunft Europas wird mein Initiativbericht zur demokratischen Teilhabe von Menschen aus allen 27 Mitgliedstaaten der EU hier im Plenum zur Abstimmung kommen. Ich bedanke mich ausdrücklich bei allen Schattenberichterstatter*innen für die Mitarbeit am diesem Bericht, die Stellungnahmen aus den assoziierten und mitarbeitenden Ausschüssen PETI, CULT und LIBE, aber auch sehr beim Sekretariat des AFCO-Ausschusses - denn das halte ich für die Transparenz des Arbeitsprozesses schon wichtig. Überaus wichtig für mich, für uns - und dafür vielen Dank - war das große Interesse aus zivilgesellschaftlichen Strukturen an der Erarbeitung des nun zur Abstimmung vorgesehenen Berichts. Ich wollte ausdrücklich diese intensive Einbeziehung von NGOs, engagierten Wissenschaftler*innen und ehrenamtlichen Fachleuten und jenen, die als Themen- und fachspezifische Akteure letztlich Bürger*innensichten entscheidend prägen zu helfen. Zivilgesellschaft lebt vom Engagement.
Die Richtigkeit der Planungsansätze im Ausschuss für Konstitutionelle Angelegenheiten ist wohl selten so deutlich geworden wie in diesen Tagen, da wir alle in unserem Alltag mit den anhaltenden Herausforderungen der Auswirkungen der Corona Pandemie auf unsere Gesellschaften gefordert sind. Nicht nur mit Blick auf die unmittelbaren Folgen für Gesundheit und Impfschutz, sondern generell bezogen auf die Frage nach dem solidarischen Zusammenleben der Menschen in unserer Europäischen Union, der Frage nach staatlicher Verantwortung ebenso wie nach der Widerstandsfähigkeit wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Akteure und der Ausformung der politischen Strukturen im Interesse der Allgemeinheit und jeder und jedes Einzelnen.
Demokratisierung der Demokratie - das war vor einigen Jahren ein zentraler Stichpunkt in vielen soziologischen und rechtswissenschaftlichen Debatten. Gerade wenn es um Transparenz und Ermunterung eines Mitwirkens an politischen Entscheidungen auf der europäischen Bühne ging. Das Verlassen des Vereinigten Königreichs der EU durch Bürger*innenentscheid wirft da natürlich Fragen auf. Was waren die Gründe, wieso wurde so entschieden und was wurde eigentlich von Bürger*innen hinsichtlich der Politik der Regierungen in Downing Street 10 als nationale Ebene in Bezug auf die Europäische Politik einerseits und erst recht von Kommission und EU-Rat in Brüssel und von uns als Europäischem Parlament als europäische Ebene andererseits erwartet? Seit vielen Jahren, vor allem nach Inkrafttreten des Lissaboner Vertrags, der auf den Pfeilern der von den Bevölkerungen in den Niederlanden und in Frankreich abgelehnten Inhalte des EU-Verfassungsvertrages konstruiert wurde, wurde über die Notwendigkeit, Bürger*innen und Bürgern mehr zuzuhören, gesprochen.
Mit der Entwicklung der Europäischen Bürger*inneninitiative wurde dabei auch ein richtiger und wichtiger Schritt in Richtung den Menschen auch eine konkrete Möglichkeit der thematischen Einmischung an die EU-Institutionen zu eröffnen getan. Aber wenn wir ehrlich sind - und so sehe ich den Ansatz und wichtige Eckpunkte für den Initiativbericht des Europäischen Parlaments - verblieb Europäische Bürger*innen Teilhabe viel zu oft im Konsultationsmodus. Und viel zu oft waren die letztlich getroffenen Entscheidungen der EU Institutionen - in Wiederspiegelung der komplizierten Kompromisssuche zwischen 27 Hauptstädten, zwischen Rat und Parlament eher das Gegenteil von dem im Lauf dieser Konsultationen Versicherten und Versprochenen. Das Ergebnis war sehr oft Ernüchterung und Enttäuschung - bestenfalls, viel mehr noch führte es zu wachsenden Distanz zu EU-Entscheidungen, Frustration und Desinteresse.
Den Berichtsansatz sehe ich auch als Bestandteil des mit der COFE beschrittenen Weges, alles am Zustandekommen europäischer Politik nüchtern auf den Prüfstand zu stellen: was funktioniert, was nicht, wo brauchen wir neue Wege und Mechanismen. Zugleich muss dies schon jetzt stattfinden, nicht erst nach Konferenzende - deshalb soll dieser Beitrag zum Aufzeigen neuer Instrumente durchaus ein eigenständiger, sofort aufgreifbarer Anlass sein, über die Demokratisierung der Demokratie in das praktische Arbeiten zu kommen.
Demokratische Ausformung unserer Gesellschaften lebt aber von der Kommunikation zwischen den Menschen, von der bewussten Teilnahme an Wahlen in einer repräsentativen Demokratie, aber viel mehr noch vom tagtäglichen Einmischung eines jeden in gesellschaftliche, politische wie wirtschaftliche Auseinandersetzungen um die Entwicklung des Gemeinwesens, in dem sie leben und arbeiten wollen und können.
Der Publizist Arno Widmann hat es in einem Essay so formuliert:“ Nicht die Medien sind die Öffentlichkeit, nicht wir sind es und auch nicht die anderen. Öffentlichkeit - ist der Moment, in dem eine Gesellschaft sich selbst erkennt.“
Ziel meines Berichts ist es somit, den Bürger*innen eine stärkere Stimme in der EU-Entscheidungsfindung geben. Dafür müssen wir die bestehenden Partizipationsmechanismen verbessern und neue auf EU-Ebene einrichten.
Wir als Europaparlament haben es hinsichtlich des prinzipiellen Herangehens an die Architektur, die Prinzipien und die zu organisierende Bürger*innenbeteiligung der Zukunftskonferenz schon formuliert:
Viele Menschen in den 27 Mitgliedsstaaten sind mit der Art und Weise, wie die Demokratie in der EU funktioniert, nicht zufrieden: Sie misstrauen den EU-Institutionen, wissen nicht, wie die Mehr-Ebenen-System funktioniert oder fühlen sich einfach nicht gehört.
Es ist also von entscheidender Bedeutung, die Bürger*innen in europäische Debatten einzubeziehen und sie aktiv an der Entscheidungsfindung der EU zu beteiligen. Nur so können wir das Verantwortungsgefühl der Bürger*innen für eine EU stärken, die ihre Bedürfnisse und Visionen widerspiegelt, eine echte europäische Öffentlichkeit entwickeln und die demokratische Legitimität der EU stärken. Dazu gehört auch Bildung zu stärken - sowohl die politische wie die fachliche - ebenso wie die kulturpolitische Dimension.
Derzeit sind die Europäische Bürgerinitiative, Beschwerden an die Europäische Bürgerbeauftragte und Petitionen an das Europäische Parlament die einzigen Bottom-up-Instrumente, mit denen sich die Bürger*innen in die Entscheidungsfindung der EU einbringen können.
Mit dem Bericht meinen wir seitens der beteiligten Ausschüsse und vielen MEPs: Diese existierenden Partizipationsinstrumente reichen heute unter den rasanten Veränderungsprozessen in der Wirtschaft und Wissenschaft, der Sozialen medien und des leider bei weitem nicht aus, um die Entscheidungsfindung der EU zu beeinflussen.
Daher schlage schlägt mein Bericht einige neue innovative Instrumente vor, wie z.B:
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Einführung eines Mechanismus für Bürgerkonsultationen zu Vorschlägen für Pilotprojekte, einschließlich "Bürgerhaushalt" und "Crowdsourcing"
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Bei erfolgreichen Europäische Bürgerinitiativen, für die die Kommission keine neue Gesetzgebung vorschlagen wird, könnte das Parlament einen Initiativbericht vorlegen.
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um dauerhafte Mechanismen zu entwickeln, sollten wir auch eine interinstitutionelle Arbeitsgruppe einrichten
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wir brauchen auch ein unabhängiges zivilgesellschaftliches Forum, um die Bürgerdialoge und -konsultationen und deren Follow up durch die EU-Institutionen zu überwachen.
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und wir müssen dringend zivilgesellschaftliche Netzwerke sowie von Arbeitsmethoden einrichten, um alle Menschen zu erreichen, insbesondere die unterrepräsentierten, um auch zivilgesellschaftlich "unorganisierte" Bürger*innen zu unterstützen und ihren Zugang zu Wahl- und Partizipationsmöglichkeiten zu fördern.
Ich hoffe, dass die mit meinen Kollegen erarbeiteten Vorschläge für eine bessere Bürgerbeteiligung in der EU-Entscheidungsfindung Anklang bei der Kommission finden werden. Und dass viele Menschen Lust und Ansporn finden, sich in Entscheidungsprozesse aktiv einzubringen. Ich bin gespannt auf Ihre Meinung, Frau Kommissarin.
Vielen Dank für Ihre Aufmerksamkeit.